Drachen der Finsternis
das alle Menschen einschläfert. Ein Ungeheuer ist beinahe ein Drache, oder? In Wirklichkeit sind es jedoch nicht alle Menschen: Es ist nur die Königin, die schläft. In Niyas Märchen ist sie schwanger, und statt eines Kindes gebärt sie Asche.«
»Ja?«, sagte Christopher.
»In Wirklichkeit«, erklärte Jumar, und seine Stimme zitterte vor Aufregung, »hat sie ein unsichtbares Kind geboren.«
Niya sah auf. »Ein unsichtbares Kind? Welche Königin? Die Königin? Die, von der man hört, dass sie in ihrem Garten in Kathmandu herumliegt und schläft, während draußen die Menschen verhungern?«
»Genau die«, antwortete Jumar. »Ich bin ihr Sohn.«
Niya sah Christopher an. Er nickte.
»Deshalb hat Kartan es auf ihn abgesehen.«
Da warf sie den Kopf zurück und lachte – sie lachte und lachte, bis die Tränen ihre Wangen hinunterliefen. Sie hinterließen helle Spuren in dem Dreck auf ihrem Gesicht.
»Das ist ja nicht zu fassen«, keuchte sie schließlich und wischte die Tränen fort. »Das ist ja absolut nicht zu fassen! Ich habe den großen T verlassen und wandere hier mit dem rechtlichen Erben des Throns von Nepal durch den Schnee. Und ich schimpfe mich eine Kommunistin! Was ist geschehen mit der Welt? Und du, Jumar – du wolltest einer der unseren werden? Ist es wahr, oder war es bloß ein Trick, auf den wir hereingefallen sind?«
»Es ist wahr«, sagte Jumar ernst. »Natürlich ist es wahr. Es hat nur nicht funktioniert. Aber darum geht es jetzt nicht. Es geht um die Märchen! Die Königin in diesen Märchen, oder die Prinzessin – sie ist niemand anderes als meine Mutter. Und das Ungeheuer aus den Märchen ist ein Farbdrache, da bin ich mir sicher. Und den Magier oder den einsamen Wanderer oder den Mönch – es gibt ihn. Es muss ihn geben. Irgendetwas ist geschehen, ehe ich geboren wurde. Sie muss ihn verärgert haben. Ich wünschte, ich könnte sie fragen! Ich bin nicht einfach so unsichtbar zur Welt gekommen. Es hat etwas mit diesem alten Mann aus den Märchen zu tun. Und es hat etwas mit den Farbdrachen zu tun. Man sagt, es gab sie nicht immer.«
Niya schüttelte den Kopf, und ihre schwarzen Wildhaare lösten sich aus der Umklammerung der dicken Mütze und flogen um sie herum wie ein eigenwilliger Schwarm Vögel.
»Und was sollen wir jetzt tun?«, fragte sie. »Einen alten Mann suchen, der irgendwo einsam im Himalaja sitzt? So klein und übersichtlich, wie der Himalaja ist? Vielleicht stimmt es nicht. Vielleicht gibt es den alten Mann nicht einmal. Oder er ist längst tot. Es ist vierzehn Jahre her.«
Dann stapfte sie weiter, stapfte voran durch das weiße Nichts des verschneiten Gebirges.
Gegen Nachmittag verzogen sich die letzten Wolken. Der Himmel färbte sich von einer Minute auf die andere aufdringlich hellblau.
Sie blieben stehen, und Christopher schirmte die Augen mit der Hand ab und beobachtete, wie die Gipfel einer nach dem anderen aus dem Dunst auftauchten, als streiften sie einen Mantel aus weißem Nebel ab. Auf einmal waren sie nicht mehr feindlich und furchterregend.
Auf einmal waren sie schön.
Die Ferne winkte mit Bergen aller Formen und aller glitzernden Schattierungen. Manche hatten farblose Flecken, die das Sonnenlicht zu schlucken schienen. Die Spuren der Drachen.
Christopher legte den Kopf in den Nacken und sah an dem Bergmassiv empor, an dessen Fuß sich die Höhle befand. Die Wolken verließen eben auch die Spitze dieses Berges. Er hatte die Form eines gleichschenkligen Dreiecks, und Christopher hatte ihn schon einmal gesehen.
Vor langer, langer Zeit in einem Bildband.
Und dann erinnerte er sich an den Namen des Berges.
Machapuchare.
Der Fishtail.
Der Berg, der aussah wie ein Fischschwanz ohne Fisch.
Er erhob sich über ihnen wie ein riesiges Zeichen. Er hatte die ganze Zeit über auf sie gewartet. Die Sonne spielte auf dem Eis, das weit, weit oben seinen Körper zierte; sie malte Muster darauf wie Eisblumen an Fenster; Schnörkel, Ranken und Blüten – und dazwischen waren wieder jene farblosen, lichtlosen Stellen, zahlreicher denn je.
»Jumar!«, sagte Christopher. »Niya!«
Sie traten zu ihm – und jetzt, im Schnee, waren Jumars knirschende Schritte zum ersten Mal sichtbar: Spuren entstanden, ohne dass jemand sie zu machen schien. Christopher lächelte.
Schweigend zeigte er nach oben.
»Christopher«, flüsterte Jumar feierlich. »Das ist er. Der Berg aus Niyas Märchen. Wir haben ihn gefunden, ohne ihn zu suchen.«
Christopher lachte. »Vielleicht hat
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