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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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ein Fleck im Schnee – ein Fleck ohne Farbe. Vor der Hütte war der Schnee tot, sein weißes Glitzern war verschwunden, er wirkte matt und stumpf wie Schnee auf einer schlechten Fotografie in einer Zeitung, die auf billiges Papier gedruckt ist.
    »Er war da«, flüsterte Jumar. »Ich habe von dem Drachen geträumt, aber er war wirklich da.«
    Er blickte den Hang hinauf, und ein Schauer durchlief ihn.
    »Wenn wir hier einem von ihnen bei Tage begegnen«, sagte er, »gibt es nichts, wo wir uns vor seinem Schatten verstecken können.«
    »Dann tun wir besser daran, keinem von ihnen zu begegnen«, sagte Niya. »Willst du immer noch auf diesen verdammten Berg steigen?«
    »Sicher«, antwortete Jumar, »mehr denn je.«
    Aber an diesem zweiten Tag setzte sich ein gemeiner Kopfschmerz in ihm fest, und er fühlte sich elend. Es pochte und hämmerte in seinem Kopf, als hätte der Drache einen Weg dorthinein gefunden und fände keinen Weg mehr heraus.
    »Schön«, sagte Niya, »das ist die Höhe. Du weißt es selbst. Wir gehen zurück.«
    »Zurück? Wir können nicht zurückgehen. Wir sind schon so weit gekommen!«
    Sie tastete in der Luft nach ihm und fasste ihn bei den Schultern der grünen Tarnjacke, um ihn leicht zu schütteln.
    »Wenn du in diesem Zustand weitergehst, kommen wir nie irgendwo an. Wir werden in der Hütte bleiben, bis du dich an die Höhe gewöhnt hast, verstanden? Oder widerstrebt es dem Kronprinzen, einem einfachen Mädchen aus dem Volk zu glauben?«
    »Nein – ich –«, sagte Jumar und wand sich in ihrem Griff.
    Aber als sie ihn losließ, da wünschte er, sie hätte ihn länger festgehalten.
    So verbrachten sie einen weiteren Tag in der Hütte, und Jumar fühlte, wie ihnen die Zeit durch die Finger rann. Wann würde der große T seine Leute nach Kathmandu hinabschicken? Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Er begann, den Berg zu hassen, begann, seinen Kopf zu hassen, den Schnee zu hassen, die Kälte –Christopher hustete wieder.
    Der Tag glitt schweigend an ihnen vorbei. Selbst Niyas Lieder waren verstummt.
    Und als sie am nächsten Morgen weitergingen, spürte er, dass auch die anderen erleichtert waren. Das Pochen in seinem Kopf hatte sich gelegt, und es kam nicht zurück. Sie stiegen jetzt langsamer denn je. Jumar hatte das Gefühl, von ferne müssten sie aussehen wie drei Schnecken, die den Berg hinaufkrochen, Windung um Windung den Pfad entlang, im Zeitlupentempo.
    An jenem Tag quoll zwischen den Bergen der Nebel herauf und nahm ihnen die Sicht. Weiße Schwaden schwebten ihnen voraus gleich körperlosen Führern, und immer wieder erinnerte er sich an die Worte des Trägers in der geschmolzenen Stadt: Das sind die Geister, die mit den Tibetern gekommen sind ... Er sagte sich, dass dies Unsinn und der Nebel nichts als Nebel war, doch es half nicht. Immer wieder sah er Arme und Beine darin, zerfließend, unstet, unheimlich. Aber nein, es war kein Nebel: Es waren Wolken. Sie stiegen durch die Wolken.
    »Christopher«, flüsterte er.
    »Ja?«
    »Ich – ich wollte nur deine Stimme hören. Es ist so still.«
    »Wir könnten singen«, schlug Niya vor. »Singen besänftigt die Geister.«
    »Also hast du auch an ... Geister gedacht?«
    »Sie sind hier«, antwortete Niya ernst. »Jeder Berg hat seine Geister. Es heißt nichts. Sie müssen uns nur durchlassen. Wenn sie etwas dagegen haben, dass wir den Gipfel erreichen, werden wir ihn nicht erreichen. So einfach ist das.«
    »Ich dachte, du glaubst nicht an solche Dinge? Ich dachte, ihr habt keine Religion?«
    »Geister haben nichts mit Religion zu tun«, erklärte Niya. »Also singen wir.«
    Also sangen sie.
    Das einzige Lied, dass sie aus irgendeinem Grund alle drei kannten, war die englische Version von Stille Nacht, und es war schon merkwürdig, durch verschneite Berge in Nepal zu wandern und Silent night zu singen, wenn es gerade die Stille war, die man vertreiben wollte. Aber es half.
    Die nächste Nacht jedoch war keine stille. Sie fanden Schutz in einer Bodensenke, in die der Wind nicht hineinkonnte, doch er pfiff ihnen um die Ohren, jaulte und heulte, als wäre er enttäuscht, dass er sie nicht erreichen konnte. Sie hockten eng beieinander und versuchten, ihre Ohren vor der Stimme des Windes zu verschließen. Aber der Wind fand seinen Weg nicht nur in ihre Ohren, sondern bis tief in ihre Herzen und flüsterte von anderen, mächtigeren und größeren Geistern als denen, die tagsüber in den Nebelfetzen gewohnt hatten.
    Jumar fasste Niyas und Christophers

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