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Drachen der Finsternis

Titel: Drachen der Finsternis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonia Michaelis
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er uns gefunden.«
    »Wenn es den Berg gibt«, sagte Jumar ernst, »gibt es auch den Mönch. Irgendwo dort oben sitzt er. Er ist alt, doch er ist noch am Leben, ich fühle es.«
    »Quatsch«, meinte Niya. »Du weigerst dich zu glauben, dass er gestorben ist.«
    »Manchmal«, sagte Jumar, »möchte ich alleine dafür sichtbar werden, dass jemand über mich schreiben kann: Er warf ihr einen irritierten Blick zu. Also ...«
    »Du warst bei: Er ist noch am Leben, ich fühle es«, warf Christopher ein.
    »Richtig. Er muss einfach noch leben. Er ist es, der mir sagen kann, weshalb ich unsichtbar bin. Wenn ich das weiß, wird es mir bestimmt auch irgendwie gelingen, sichtbar zu werden. Und dann werde ich in die Stadt gehen und vor meinen Vater treten, und er wird mir den Schlüssel zu seiner Macht geben. Und alles wird gut. Keine Drachen mehr, kein Hunger, gar nichts.«
    »Amen«, sagte Niya, die keine Religion hatte.
    Dann seufzte sie. »Ich fürchte, ihr wollt da hinauf, was? Und ich fürchte, es nützt nichts, wenn ich euch sage, dass es unmöglich ist? Und dass man sagt, niemand könnte den Fishtail bestei-gen?«
    »Ich erinnere mich vage, irgendwo gelesen zu haben, dass Reinhold Messner oben war«, wandte Christopher ein.
    »Seid ihr Deutschen alle so wahnsinnig?« Sie seufzte ein zweites Mal. »Was für eine Frage. Ich weiß es ja. Ich weiß es ja nur allzu gut.«
    In diesem Moment hätte Christopher sie gerne in den Arm genommen – wie sie dastand und den Kopf schüttelte, weise, resigniert. Und doch war ihr Herz jung und unerfahren, und in der geschmolzenen Stadt hatte es einen ernsthaften Riss bekommen. Er streckte eine Hand aus – doch er ließ sie wieder sinken. Denn sie waren nicht allein.
    Und er ahnte, dass sie nie wieder allein sein würden.
    Tausend Gedanken wirbelten im Thronfolger Nepals umher, als er an jenem Nachmittag aufbrach, um den Machapuchare zu besteigen, den Fischschwanz ohne Fisch, den Berg, von dem die Märchen kamen. Der einzige Pfad, den es gab, war der, den sie hinterließen: Ihre Spuren im Schnee, die der neue Schnee wieder zudecken würde.
    Aber zunächst blieb der Himmel blau – blauer als alle blauen Stoffe im Palast, blauer als alle Blumen im Garten, wo die Königin seit vierzehn Jahren schlief; blauer als das Wasser im blau gekachelten Pool des Königs.
    Wie wird es sein?, dachte Jumar. Wenn ich sichtbar werde? Werde ich es fühlen? Wird es schmerzen? Werden meine Schritte schwerer sein?
    Und wie werde ich aussehen? Wer wird mir aus dem Spiegel entgegenblicken? Werde ich ihn erkennen? Werde ich aussehen wie mein Vater? Wird Niya gefallen, was sie sehen wird? Wird es etwas zwischen uns ändern, wenn ich sichtbar bin?
    Sicher, es muss etwas ändern.
    Aber was, wenn ich nicht sichtbar werden kann? Wenn es das ist, was der alte Mann auf dem Berg mir sagen wird?
    Der Schnee knirschte unter ihren Schritten, und der Wind fegte feinen Eisstaub in Schlieren darüber hin wie Geister, die über den Hang huschten. Jumar setzte Fuß vor Fuß, vor sich die allzu sichtbaren Umrisse von Niya und Christopher, und bald verloren sich seine Gedanken in der Höhe. Es fiel ihm schwerer zu atmen.
    Ja, dies war die wirkliche Höhe, und alles, was sie bisher davon erfahren hatten, war lächerlich dagegen: Immer häufiger legten sie jetzt Pausen ein, um auszuruhen. Kurz bevor es dunkel wurde, stießen sie auf einen Weg – nicht viel mehr als ein Pfad, doch Jumar war noch nie über einen Pfad so glücklich gewesen. Sie hätten ihn nicht entdeckt, hätte nicht eine zerrissene Plastiksandale dort gelegen – ein Zeichen menschlichen Lebens. In dieser Nacht fanden sie eine leer stehende Hütte, notdürftig zusammengezimmert aus dünnen Brettern, doch genau wie der Pfad erschien die Hütte Jumar als das Beste, was man sich vorstellen konnte.
    Der Wind pfiff durch die Ritzen zwischen den Brettern, und die Tür schloss nicht richtig. Sie schliefen auf dem rauen Bretterboden, und der Thronfolger Nepals träumte. Er träumte, dass ein Farbdrache mit seinen riesigen Schwingen über die Hütte hinwegstrich, seine schwarzen, hohlen Augen suchend, spürend, lauernd – als wüsste er, dass einer auf dem Weg war, das Geheimnis der Drachen herauszufinden und ihr Dasein zu beenden. Doch der Schnee hatte ihre Spuren zu Beginn der Nacht wieder zugedeckt, und der Farbdrache fand nur eine Hütte, die schon lange dort stand.
    Als sie am nächsten Morgen eine weitere Büchse Ölsardinen teilten und die Hütte verließen, war da

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