Drachen der Finsternis
gepflanzt hatte, war nicht ohne Magie, und es wären wunderbare Dinge daraus gesprossen, hätte die Königin den Magier nicht verägert. Doch so wurde daraus eine Feuersbrunst. Ja, eine Feuersbrunst aus einem unscheinbaren, braunen Pflanzensamen. Doch es war eine geheime Feuersbrunst, die man nur spüren konnte und nicht sehen. Als die Königin bald darauf den Palast verließ, um eine Spazierfahrt in ihrer Kutsche zu unternehmen, spürte sie die Feuersbrunst mit einer plötzlichen Macht nach sich greifen. Die Königin trug ein Kind in ihrem Bauch, und sie fühlte, wie das unsichtbare Feuer, das aus dem Samen des Magiers gewachsen war, das Kind verbrannte. Niemand glaubte ihr. Aber als sie ihr Kind gebären sollte, da war alles, was sie gebar, ein Häuflein weißer Asche.«
Niya verstummte und fütterte dem Feuer eine weitere Handvoll Blätter und Äste, und auch sie würden sich binnen kurzer Zeit in weiße Asche verwandeln.
»Das – ist alles?«, fragte Christopher. »Das war das Märchen?«
Sie nickte.
»Die Märchen ... die ich bisher hier gehört habe, sind alle merkwürdig«, sagte Christopher.
»Und sie sind ziemlich einfallslos«, sagte Jumar. »Sie erzählen immer das Gleiche.«
»Ja?«, fragte Christopher. Vielleicht hätte er besser zuhören sollen. Oder vielleicht war es egal. Wenn es immer das Gleiche war. Er gähnte.
»Irgendwie schon. Es geht immer um schöne Frauen und immer um alte Männer.«
»Die nicht kriegen, was sie wollen?«, meinte Niya und lächelte. »Vielleicht sind die alten Männer in alten Märchen so.«
»Sie kommen immer aus den Bergen«, sagte Christopher nachdenklich. »Vielleicht hat das etwas zu bedeuten.«
»Es bedeutet, dass es in den Bergen ungemütlich ist und die alten Männer deshalb unzufrieden sind.«
Niya lachte.
»Nein«, sagte Jumar, und mit einem Mal wirkte er ernst. »Wartet. Moment.«
Niya und Christopher starrten auf die Stelle, an der sich über der Jacke ungefähr sein Gesicht befand – als könnten sie dadurch herausfinden, was er dachte.
»Was denn?«
»Ich muss nachdenken«, sagte Jumar. »Diese Märchen ... sie erinnern mich an etwas. Wenn ich nur wüsste, an was!«
»Mich haben sie ein wenig an die Drachen erinnert«, sagte Christopher. »Vielleicht wegen der Feuersbrunst. Die Drachen speien auch Feuer.«
»Und dann war da der Garten ...«, murmelte Jumar. »Ein Garten wie der Garten zu Hause, bei meinem Vater.«
»Dein Vater hat einen Garten?«, fragte Niya. Niya, die nicht wusste. Die immer noch nicht wusste, wer Jumar war.
Er antwortete ihr nicht. Und so schwiegen sie alle drei und sahen ins Feuer, das langsam herunterbrannte.
»Es ist ein Test«, sagte Jumar endlich. »Kann das nicht sein? In allen drei Märchen. Eine Prüfung. Und die schöne Frau besteht sie nicht. Sie will den einsamen Wanderer nicht sehen. Sie weist den Mönch ab. Sie schickt den Magier fort. Es ist ein und dasselbe.«
»Von mir aus«, sagte Christopher. »Also ein Test. Womit wir die Märchen stilgerecht interpretiert hätten. Willst du jetzt einen Aufsatz darüber schreiben oder was?«
Jumar knurrte.
»Lasst uns gehen«, sagte Niya. »Es hat aufgehört zu schneien. Und es ist kein Holz mehr da.«
»Wohin?«, fragte Christopher. »Wohin willst du gehen?«
Sie zuckte die Schultern unter dem dicken Parka. »Darauf kommt es nicht an. Wir müssen warm bleiben.«
Und Niya war es, die sich mit den Bergen auskannte. So traten sie wieder hinaus in die unendliche weiße Fläche und setzten einen Weg fort, von dem sie nicht wussten, wohin er führte. Da war nichts, woran man sich orientieren konnte. Kein Baum, kein Strauch, kein Zeichen von Leben. Die gleißende Fläche des Neuschnees blendete Christopher, und beinahe wünschte er sich, ein Drache würde in ihr auftauchen.
Aber nur beinahe.
Jumar trottete schweigend und brütend hinter ihnen her –Christopher hörte ihn von Zeit zu Zeit murmeln.
»Ein und dasselbe, ein und dasselbe...« murmelte er. Und dann packte er Christopher ganz plötzlich an der Kapuze und brachte ihn beinahe aus dem Gleichgewicht. »Es ist nicht nur ein und dasselbe«, sagte er. »Es ist ein und dieselbe.«
»Wie bitte?«, fragte Christopher.
»Ein und dieselbe Frau. Die Prinzessin. Die Gärtnerin. Die Königin. Aber das stimmt nicht. Sie ist immer eine Königin. Der Rest ist erfunden. Ich glaube ... ich glaube, Teile von jedem der Märchen sind wahr. Oder: Sie sind der Wahrheit ähnlich. In einem der Märchen kommt ein Ungeheuer vor,
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