Drachenauge
Azury.
Die Glocke bimmelte. Gallian drückte Azury den
Block in die Hand.
»Ich werde zusehen, was sich machen lässt. Und ich
helfe Ihnen nicht nur, weil ich schon seit langem weiß, was für ein gemeiner Kerl dieser Chalkin ist. Finden Sie selbst hinaus?«
»Natürlich.«
»Was könnte der Junge denn bewirken?«, spekulierte
M'shall, als sie die Treppe zum vorderen Portal hinunter-eilten und hinaustraten in die erbarmungslose Kälte.
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»Man weiß nie, inwieweit ein kluger Kopf jemanden
zu manipulieren versteht«, gab Azury zurück. »Ver—
dammt noch mal, hier ist es ja eisiger als im Dazwischen .
Bringen Sie mich so rasch wie möglich in mein warmes Klima zurück.«
»Wäre es zu viel verlangt, wenn wir Sie bitten, einen kurzen Zwischenstopp in Burg Fort einzulegen?«, fragte Bridgely und musste grinsen, weil Azurys Zähne heftig klapperten.
»Nein. Ich glaube, es ist einfach notwendig, wenn wir Chalkin das Handwerk legen wollen.«
M'shall nickte zustimmen. Dann schwang er sich auf
Craigaths Rücken und half den beiden anderen Männern beim Aufsitzen.
In Burg Fort herrschten zwar keine tropischen Temperaturen, doch verglichen mit der klirrenden Kälte im Hochland war es angenehm warm. Paulin empfing die
Männer mit ausgesuchter Herzlichkeit und bestand darauf, dass sie einen heißen, aromatisch duftenden Ge-würzwein tranken, derweil sie ihm ihre Abenteuer schilderten.
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jamson seine
Meinung ändern wird, besonders jetzt nicht, da er sich offenbar bedrängt fühlt«, kommentierte Paulin, als er und seine Gäste sich an das prasselnde Kaminfeuer in seinem Arbeitszimmer setzten. »Jamson galt schon immer als Querkopf.«
»Dann rechnen Sie also nicht damit, dass sein Sohn
ihn beeinflussen kann?«, entgegnete Bridgely. Er fühlte sich niedergeschlagen, weil sie mit ihrer Hartnäckigkeit Jamsons Widerspruchsgeist nur noch mehr provoziert hatten.
»Gallian macht auf mich einen sehr tüchtigen Eindruck«, wog er ab, »aber die Wahrheit ist, dass Jamson langsam senil wird und seine Schrullen pflegt. Gallian hat längst die meisten Verwaltungsaufgaben übernommen.«
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»Tatsächlich?«, staunte Bridgely. Obwohl er sich über Jamsons Unnachgiebigkeit ärgerte, schien seine Burg sehr gut geführt zu sein, und der Lord genoss allgemein einen ausgezeichneten Ruf.
»Ja, so ist das nun mal. Jetzt verrate ich Ihnen etwas im Vertrauen, meine Freunde. Vor ungefähr einem Jahr kamen Gallian und seine Mutter zu mir. Sie erzählten, Jamson litte unter Gedächtnisverlust und würde mitunter sogar widersprüchliche Befehle erteilen.«
»Aber falls es zu einem Amtsenthebungsverfahren
käme, müsste Jamson doch persönlich anwesend sein,
oder?«
Nachdenklich rieb sich Paulin das Kinn.
»Und wir dürfen nicht mehr lange zögern«, fügte
Bridgely hinzu. »Wir können nicht warten, bis Gallian seinem Vater einflüstert, er solle gegen Chalkin stimmen.«
»Ein paar Wochen bleiben uns noch … nun, da wir
die Flüchtlinge aus Chalkins Machtbereich entfernt
haben«, erwiderte Paulin.
Bridgely öffnete den Mund und klappte ihn wieder
zu. Ihm schien es angeraten, seine Gedanken für sich zu behalten, denn Paulin brütete offenbar eigene Pläne aus, die er nicht durchkreuzen wollte.
»Ich möchte mir gern die Bilder anschauen, die Iantine klugerweise gezeichnet hat«, bat der Burgherr, und Azury reichte ihm den Block. Eingehend prüfte Paulin die Beweisstücke. »Der junge Mann besitzt ein beachtliches Talent. Ich staune, mit wie wenigen Strichen er so viel auszudrücken versteht. Man spürt förmlich die Kälte, die Verzweiflung und die bittere Resignation dieser armen Menschen. Dabei fällt mir ein, dass Issony er-zählte, Chalkin habe darauf bestanden, dass die Verfassung im Schulunterricht nicht erwähnt werden dürfe.«
»Das ist ja ungeheuerlich!«, rief Azury und blickte von seinem Becher mit dem heißen, gewürzten Wein hoch.
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»Es erklärt jedenfalls, wieso die meisten seiner Pächter keinen blassen Schimmer haben, dass so etwas wie ein Gesetz überhaupt existiert«, erklärte M'shall mit gepresster Stimme. »Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass jeder Mensch auf Pern, und sei er noch so arm und von seinem Feudalherrn abhängig, einen Anspruch auf gewisse Grundrechte hat.«
»Clissers neues Unterrichtsprogramm schafft in diesem Punkt Abhilfe«, beschied ihm Paulin und stand auf, um die Becher aus der Karaffe nachzufüllen, die zum
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