Drachenauge
von ihnen trug einen Stift hinter dem Ohr, und von seinem Gürtel baumelte ein leerer Beutel, das Etui für den Block, der nun vor dem Mann auf dem
Tisch lag.
Doch wären die Händler trotz aller Vorsichtsmaßnahmen imstande, die fünfzig gefahrvollen Jahre der
Annäherung des Roten Sterns zu überstehen? Zwischen der Planung einer Sache und deren tatsächlicher Durchführung klaffte oft ein Abgrund, wie Iantine erst kürzlich am eigenen Leib hatte erfahren müssen. Es würde schwierig werden, Waren über Land zu transportieren, weil die Drachen, die sonst eine Art Flugdienst ausübten, mit der Bekämpfung der Fäden beschäftigt wären.
221
In der jetzigen Situation konnte man nicht von ihnen verlangen, sich in trivialen Aufgaben zu verzetteln.
Schließlich hatte man sie nicht gezüchtet, um Transporte zu übernehmen, sondern sie stellten eine hoch spezialisierte Luftstreitmacht dar. Die regelmäßige Beförderung von Menschen und Sachen war nur während eines fädenfreien Intervalls möglich.
Er fragte sich, ob die Händler auch Zeichenpapier mit sich führten, obwohl er nicht eine Viertel-Marke mehr besaß, mit der er es hätte bezahlen können. Aber vielleicht konnte er ein paar Skizzen gegen Papier eintauschen.
So rasch und akkurat wie möglich füllte er das letzte freie Blatt mit einer Montage: Die Karawane, wie sie sich behäbig in den Weyrkessel wälzte, Leute, die den Wagen entgegenrannten, die ausgestellten Güter, feil-schende und handelseinig werdende Menschen. In die Mitte des Bildes setzte er die Szene, wie die Weyrführer mit den Kaufleuten die Köpfe über den Landkarten zusammensteckten. Dann hielt er das Blatt auf Armeslän-ge von sich weg und musterte es kritisch.
»Wunderschön!«, sagte eine Stimme hinter ihm. Verdutzt drehte er sich um. »Und wie schnell du das Ganze zu Papier gebracht hast.«
Die grüne Reiterin, deren Drache neben ihr her—
zockelte, lächelte verlegen; in ihren grünen Augen
schimmerte so etwas wie Ehrfurcht. Erst neulich hatte Leopol Iantine auf das Mädchen aufmerksam gemacht
und von ihrer abenteuerlichen Ankunft an der Brutstät-te erzählt.
»Debera?«, fragte er, als ihm ihr Name einfiel. Sie schnappte nach Luft und prallte erschrocken zurück.
Sofort ging ihr Drache in Angriffsstellung, und seine Augen rollten drohend in ihren Höhlen. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken …«
»Schon gut, Morath, er meint es nicht böse«, beruhigte sie den Drachen und blickte lächelnd zu dem großen 222
Geschöpf hinauf. »Ich war nur so überrascht, weil du meinen Namen kennst.«
»Leopol hat ihn mir verraten.« Mit dem Zeichenstift deutete Iantine auf den Jungen, der hingebungsvoll mit einem Händler schacherte, der nicht viel älter war als er.
»Während ich mich im Weyr erhole, setzt er mich über so ziemlich alles ins Bild, was sich hier abspielt.«
»Ach ja!« Das Mädchen schien sich zu entspannen
und setzte ein strahlendes Lächeln auf. »Ich kenne ihn.
Er mischt überall mit. Und er hat ein gutes Herz.« Sie blickte zu Iantine empor. »Von Leopol weiß ich, dass du ebenfalls ein paar Abenteuer erlebt hast.« Dann deutete sie auf die Skizze. »Das Bild ist wunderschön, und wie schnell du es gezeichnet hast. Es ist fast, als könnte man den Leuten beim Feilschen zuhören«, setzte sie hinzu und zeigte auf den Händler, den Iantine mit weit geöff-netem Mund dargestellt hatte.
Inaine musterte sein Werk mit kritischem Blick.
»Wenn man wirklich gute Arbeit leisten will, darf die Zeit keine Rolle spielen.« Geschickt fügte er noch eine Falte in das Gewand des Kaufmanns ein, wie wenn sich darunter ein prallvoller Beutel verbarg. »Wir wollen doch mal sehen, ob mein Modell das Bild mag.« Er war selbst überrascht, wie giftig seine Stimme klang. Misstrauisch blickte das Mädchen zu ihm auf.
»Wenn du solche Skizzen im Handumdrehen zu Papier bringst, dann möchte ich gern die Bilder sehen, die du in Muße gemalt hast.«
Er konnte nicht widerstehen und blätterte die Seiten um, bis er an das Blatt kam, wo er Debera beim Einölen ihres Drachen skizziert hatte.
»Ach, ich hatte gar nicht gemerkt, dass du mich gemalt hast …« Sie wollte nach dem Blatt fassen, doch er blätterte weiter zurück bis zu der Zeichnung, die sie und Morath abbildete, wie sie aufmerksam T'dams Unterricht lauschten. Debera hatte einen Arm um Moraths Hals geschlungen, und er fand, er habe das innere Ein-223
verständnis herausgearbeitet, das Mensch
Weitere Kostenlose Bücher