Drachenauge
Großzügigkeit ist eher selten.«
»Wie lange warst du eigentlich in Bitra?«, erkundigte sich Debera spitz.
»Lange genug«, versetzte Iantine und schnitt eine
Grimasse, »um zu begreifen, wie unterschiedlich man den Begriff ›zufrieden stellend‹ auslegen kann.«
Debera zog die Stirn kraus.
»Schon gut«, winkte er ab. »Vielen Dank noch, dass
du mich deinem Cousin vorgestellt hast.«
»Sowie er deine Skizzen sah, brauchtest du mich als Vermittlerin gar nicht mehr«, stellte sie richtig.
»Ich glaube, Sie haben das hier bestellt«, ertönte eine Stimme. Verdutzt blickten Debera und Iantine auf und sahen, wie ein schwer bepackter Händler auf sie zusteu-erte. Vorsichtig legte der Mann seine Waren auf dem Tisch ab: Zwei Blöcke Zeichenpapier von unterschiedlicher Größe, ein hübsches Kästchen mit einer Flasche Tusche darin, ein Etui mit Federkielen und eine Schach-231
tel voller Bleistifte. »Sonderlieferung.« Schmunzelnd machte er auf dem Absatz kehrt und marschierte davon.
»Meister Jol rühmt sich für seine prompte Bedie—
nung«, kommentierte Leopol breit grinsend.
»Siehst du, jetzt hast du alles, was du brauchst!«, freute sich Debera.
»Recht hast du!«, bekräftigte Iantine mit einer Inbrunst, als spräche er ein Gebet.
232
KAPITEL 9
Winteranfang; Burg Fort und
die Grenzen von Bitra
ord Paulins Nachricht an die anderen Burgherren
Lund Weyrführer wurde recht unterschiedlich aufgenommen. Nicht jeder bejahte ein Amtsenthebungsverfahren, trotz der Beweise, die gegen Chalkin vorlagen.
Paulin war ziemlich verärgert und frustriert; er hatte mit einem einstimmigen Beschluss gerechnet, sodass
man Chalkin hätte absetzen können, ehe seine marode Festung völlig heruntergewirtschaftet war.
Jamson und Azury fanden, die Angelegenheit könne
bis zur Versammlung am Ende des nächsten Planetenumlaufs verschoben werden. Jamson war für seine re—
aktionäre Einstellung bekannt, doch Azurys zögerliche Haltung setzte Paulin in nicht geringes Erstaunen. Indessen verstanden die Bewohner tropischer Regionen
oftmals nicht die Probleme, die die Winterzeit mit sich brachte.
Gewiss, mitten im Winter wäre es schwierig, Burg
Bitra von Grund auf herzurichten – so lautete jedenfalls Azurys offizielle Stellungnahme; aber man konnte wenigstens damit beginnen, Schutzmaßnahmen gegen
den Fädenregen zu treffen. Schon vor zwei Jahren hätte man in Bitra mit den Vorkehrungen anfangen müssen –
so wie es in jeder anderen Burg geschehen war.
Konkret hieß das, dass man mehr Äcker bestellte, die überschüssige Ernte einlagerte und sowohl Gebäude als auch kultivierte Landflächen vor den Fädenschauern
zu schützen versuchte. Längs der Hauptstraßen mussten Unterstände für Reisende und die Bodencrews errichtet werden. Ganz zu schweigen von den Schulun—
233
gen, in denen man den Pächtern und Grundbesitzern
beibrachte, wie man Fäden bekämpfte, die sich in den Boden eingruben.
Ein zusätzliches Hemmnis für effektives Handeln
stellte die Moral von Chalkins Untergebenen dar. Die Leute machten generell einen mutlosen, geduckten Eindruck – was natürlich keineswegs rechtfertigte, sie über die bevorstehende Gefahr im Unklaren zu lassen.
Und dann stellte sich die Frage, wer Chalkins Nachfolge antreten sollte. Diesbezügliche Überlegungen
endeten notgedrungen in einem Dilemma.
Von Bastom stammte der brauchbare Vorschlag, unverzüglich einen Stellvertreter oder Regenten einzusetzen, bis einer von Chalkins Söhnen volljährig wurde; Söhne, die man inzwischen konsequent darauf drillen musste, die Verantwortung für die Burg zu übernehmen. Nicht, dass der neue Burgherr unbedingt dem Geschlecht der Chalkins angehören musste, doch indem man die natürliche Erbfolge berücksichtigte, konnte man die Lords, die das Aufkeimen einer umstürzle-rischen Gesinnung befürchteten, vielleicht beruhigen.
Privat vertrat Paulin die Auffassung, dass in der Frage einer Nachfolge ausschließlich Kompetenz maßgeblich sein sollte, und nicht der Stammbaum der Aspiranten.
Denn Tüchtigkeit und organisatorisches Talent, unabdingbare Eigenschaften für einen Burgherrn, wurden
nicht immer über die Gene vererbt.
Zum Beispiel zeigte Paulins ältester Neffe ein beachtliches Talent, wenn es um die Leitung eines großen Gemeinwesens ging. Sidny war fleißig, besaß einen aus-geprägten Sinn für Gerechtigkeit und entpuppte sich oftmals als guter Menschenkenner.
Paulin neigte immer mehr dazu, ihn als den
Weitere Kostenlose Bücher