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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lee Parks
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draußen nicht zu hoffen, er musste sich selbst aus dem System befreien.
        Mit einer kurzen Handbewegung nahm Virgil das nächste Lichtleiterkabel und zog sich wieder in das Herz des Systems zurück. Dort erklomm er eine Anhöhe, um sich erst einmal einen Überblick über die ihm zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu verschaffen.
        Das Tal zu seinen Füßen wurde durch einen majestätischen Datenfluss zerschnitten. Der Horizont erstrahlte im rötlichen Licht eines Glühfadenbirnchens, das der Beleuchtung eines von »außen« zugänglichen Bedienelementes diente, an dem Menschen aus Fleisch und Blut auf die Vorgänge hier im System Einfluss nahmen, ohne dass sie eigentlich genau wussten, was sie jeweils anrichteten. Jenseits des Datenflusses türmten sich mehrere Module und modernste integrierte Schaltkreise zu einer imposanten Konstruktion übereinander. Sie bildeten ein kleines Rechenzentrum, das die Aufgabe hatte, die ankommenden Datenströme zu filtern und auf ihren Verwendungszweck hin zu überprüfen. Dieses Rechenzentrum war für Virgil deshalb so interessant, weil die eingehenden Bits in analoge Signale umgewandelt, verstärkt und an eine Buchse weitergeleitet wurden, die wie ein gigantischer Finger hinauf zum Himmel führte. Dort wartete ein Stecker auf die Signale, an dem die Menschen die gewünschten Daten vom Computer abgriffen und je nach Bedarf an die angeschlossenen Peripheriegeräte weiterleiteten.
        Virgil schaute hinauf zum künstlichen Himmel, wo die Buchse in die Welt mündete, in die er wieder zu gelangen trachtete. Lange war es schon her, dass er einen echten Himmel gesehen hatte. Er musste sich zu seiner eigenen Schande eingestehen, schon gar nicht mehr genau zu wissen, worin sich dieser von einem richtigen Himmel unterschied. Blau war nun einmal blau, und überhaupt, war es denn wirklich so wichtig, welcher der beiden Himmel der echte war, solange beide möglich waren? Über diese Frage wollte sich Virgil später noch ausführlich Gedanken machen. Zunächst wollte er aber die Buchse erreichen, die ihm die Rückkehr zu seinem alten Leben ermöglichte. Dazu galt es den mächtigen Datenstrom zu überqueren, der zwischen ihm und dem Rechenzentrum im Tal lag. Bangen Herzens streckte Virgil seine Hand aus, deutete mit seinem Zeigefinger in die entsprechende Richtung und marschierte die Anhöhe hinab.
        Hatte der Strom von oben schon einen majestätischen Eindruck gemacht, dann sah er aus der Nähe gesehen erst recht bedrohlich aus. Das war er, Styx.x, der geheimnisvolle Datenfluss der Unterwelt, der die Träume und Hoffnungen unzähliger Computerexperten und Techniker in sich aufgenommen hatte, der Fluss, der ihre unsterblich gewordenen Seelen in der Gestalt verschlüsselter Zahlenreihen ihrer Bestimmung entgegen trieb und den Geist seiner Väter bis in die letzten Winkel des Systems transportierte. Und trotz seiner unheimlich anmutenden Erscheinung sprühte dieser Datenstrom geradezu vor Leben. Er war von einem ständigen Flüstern und Summen begleitet und widerlegte damit die Annahme von der totalen Künstlichkeit der virtuellen Realität.
        Beim Näherkommen stellte Virgil einen eigenartigen Geruch fest. Die Luft war durch den konstanten Fluss der Elektronen ionisiert und knisterte geradezu vor Spannung. Seine Haare wehten wie im Wind und richteten sich im Wechsel der Magnetfelder aus, die sich hier und da zwischen den verschiedenen Kondensatoren und Relais aufgebaut hatten und die er durchschritt, als seien es unsichtbare Spinnennetze, die auf seiner Haut zerrissen. Dunkle Wolken zogen am Himmel auf und formierten sich zu mächtigen Ungetümen, die angetreten waren, wie zornige Götter über die Leiterplatten hinwegzufegen und dem wilden Treiben der Elektronen ein Ende zu bereiten. Ein fahles Dämmerlicht hüllte die Landschaft ein. Gelegentlich fand in luftiger Höhe eine statische Entladung statt, die einen grellen Lichtbogen vom Firmament hernieder fahren ließ und den Boden zum Erzittern brachte.
        Angesichts dieser Naturgewalten duckte sich Virgil unwillkürlich zusammen und beschleunigte seine Schritte, um den Styx.x möglichst schnell zu erreichen. Als er unten am Ufer angekommen war, kamen ihm Zweifel, ob er überhaupt in der Lage war, den Fluss zu durchqueren. Er wusste nicht, wie sein Körper auf die Elektronen reagieren würde und welche Folgen ein Spannungsabfall, den er zweifellos verursachen würde, für ihn und auch für das System haben

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