Drachenblut
abtun können. Aber wenn schon sie anfing, an seinen Illusionen zu zweifeln, dann gab es kein Zurück mehr, weder für ihn, noch für das Mädchen.
»Meinen Stein! Ich warte!«
Eine innere Wut stieg in Gott auf, und er wollte zuerst nicht wahrhaben, dass diese Wut dem kleinen Mädchen galt. Warum ließ sie nicht locker? Warum lief sie nicht fort von hier und verkroch sich bis in alle Ewigkeit irgendwo unter einem Bett oder in einem Erdloch, wo er sie niemals mehr finden könnte? »Schnell, kleines Mädchen, lauf!« wollte er ihr zurufen, »Versteck dich!« Er wollte sie anschreien, damit sie zu Sinnen käme, er wollte sie rütteln und schütteln, damit sie erkannte, wie es um sie bestellt war. Aber natürlich wusste Gott, dass es ihr nicht gelungen wäre, sich vor ihm zu verbergen, und er wusste, dass sich sein Zorn nicht wirklich gegen sie richtete, sondern gegen sich selbst und seine Unfähigkeit, ihr gegenüber aufrichtig zu sein.
Der Duft der Limonade hatte eine Wespe angelockt. Brummend umkreiste sie die Strohhalme, die aus den Limonadegläsern ragten. Missmutig versuchte Gott das Insekt mit wedelnden Handbewegungen zu verjagen, ohne dass er damit besonderen Erfolg hatte. Mit der Zeit konnte die Wespe richtig lästig werden.
Natürlich war dem kleinen Mädchen aufgefallen, dass Gott auf ihre Fragen immer wieder auswich. Es wollte ihr nur nicht gelingen, den Grund für diese abweisende Reaktion zu erkennen.
Schweigend saßen Gott und das kleine Mädchen auf der Veranda. Jeder wartete darauf, was der andere sagen würde. Weg war die unbeschwerte Fröhlichkeit, mit der beide miteinander umgegangen waren. Dahin war die Leichtigkeit, die ihr Beisammensein durchdrungen hatte. Stattdessen waren die Blicke beider auf die Wespe fixiert, als mangle es an anderen Bezugspunkten, auf die sich gemeinsam einzulassen gelohnt hätte.
Die Wespe ließ sich schließlich auf einem Tellerrand nieder, stellte ihr aufgeregtes Brummen ein und tastete sich vorsichtig an die zerschmolzenen Reste der Eiscreme heran. Dieser kurze Augenblick der Ruhe löste in Gott einen Impuls aus, den er nicht unterdrücken konnte. Mit einer schnellen Handbewegung schlug er das Tier tot und schnippte den zerquetschten Körper vom Tisch, noch ehe er sich richtig bewusst geworden war, dass er sich verraten hatte.
Das Mädchen sah ihn erschrocken an. Langsam ließ sie sich in den Stuhl zurücksinken, als wollte sie zu Gott auf Distanz gehen. Lange wagte sie nicht, etwas zu sagen, und dann waren die Schmerzen in ihrem Bauch wieder da, schlimmer und bösartiger als je zuvor. Ihre Gedanken drehten sich im Kreise und suchten nach einer Möglichkeit, die es ihr erlaubte, ihre Befürchtung als unbegründet zu erkennen. Vergeblich wartete sie auf ein Zeichen von Gott, ein gütiges Lächeln vielleicht, eine Geste oder ein Wort, welches die Situation als Missverständnis auflösen würde.
Das Gesicht Gottes war hart geworden, und ihm war deutlich anzusehen, dass er eine Maske trug. Wie sonst hätte er die Nähe des Mädchens in diesem Moment ertragen können.
Das kleine Mädchen richtete sich schließlich wieder auf und nahm all ihren Mut zusammen. »Werde ich träumen?« wollte sie wissen.
Sie erhielt keine Antwort.
»Werde ich träumen?« flehte sie ihn an.
Gott schüttelte seinen Kopf. »Die Zeit der Träume ist vorbei.« Damit hatte er seine Entscheidung getroffen.
Das kleine Mädchen senkte traurig den Kopf, und als sie die wahre Bedeutung dieser Worte begriff, saß sie ganz still, als hoffte sie, dadurch die Zeit anhalten zu können. Aber das Schlagen ihres Herzens durchdrang den Schleier der Ewigkeit, duldete die Leere nicht, in die sich das Mädchen flüchten wollte. Und so beugte sie sich mit pochendem Herzen nach vorne, legte ihre Hände auf die Wangen Gottes und schaute ihm tief in die Augen. Zuerst wich Gott ihrem Blick verlegen aus, aber das Mädchen zog seinen Kopf näher zu sich heran, bis sie seinen Atem auf ihrer Haut spüren konnte. Ihre Blicke trafen sich, verschmolzen miteinander, und dem Mädchen war, als täten sich in den Augen ihres Schöpfers Welten auf, deren Existenz sie früher nur geahnt hatte. Und je länger das Mädchen die Pupillen fixierte, desto stärker wurde in ihr das Verlangen, alles hinter sich zu lassen und den Schritt zu tun, vor dem sie sich bisher stets gefürchtet hatte. Sie wollte Teil dieser unendlichen Weite werden, mit
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