Drachenblut
zwingen.
Dr. Freak zielte mit der Spraydose auf verschiedene Ecken seines Privatzimmers, stellte sich vor, dort wären Ameisennester und imitierte dazu das Geräusch der ausströmenden Möbelpolitur: »Pffft… pffft… Haha, eines Tages seid ihr alle fällig. Pffft… pffft!«
Dann hob er die Dose in die Höhe, richtete die Düse des Sprühkopfes auf das Gesicht und überlegte sich, wie es wohl wäre, wenn er als Insekt dem Tode direkt ins Auge starren würde. »Pffft… pffft!«
Und wie Dr. Freak mit sich selbst beschäftigt war, wurde die Tür aufgestoßen, und ein Techniker platzte in das Zimmer. »Entschuldigung, Herr Doktor, wir haben den Prototypen jetzt lokalisiert.«
Dr. Freak war über die plötzliche Störung sehr erbost. Er fuhr herum und drehte seinen Kopf in Richtung des Technikers, um ihn zur Rede zu stellen. Durch die Drehbewegung des Halses wurde aber der Glassplitter in seinem Hinterkopf verschoben, und die Scherbe, die dort seit seinem kleinen Unfall ruhte (wir erinnern uns), bohrte sich in die Nervenstränge, welche die Feinmotorik der Gliedmaßen steuern. Daher verspürte Dr. Freak einen plötzlichen Stich im Hinterkopf, und seine Hand verkrampfte sich um die Spraydose. Dies wiederum hatte zur Folge, dass der Sprühkopf niedergedrückt, die Möbelpolitur freigegeben und direkt in sein Gesicht getrieben wurde. Als Dr. Freak erkannte, dass das zischende Geräusch nicht von ihm imitiert wurde, sondern wirklich von der Spraydose stammte, war es bereits zu spät. Erstaunt riss er Mund und Augen auf, und das war aus medizinischer Sicht in dieser Situation wohl ein Fehler. Schon hatte er eine nicht unerhebliche Menge der Möbelpolitur eingeatmet, und die Reaktion seines Körpers bewies, dass das Mittel in seiner Wirkung auf lebende Organismen durchaus mit echten Insektenvertilgungsmitteln zu vergleichen war.
Der verdutzte Techniker konnte beobachten, wie Dr. Freak zu Boden ging, dort auf allen Vieren im Kreis herumkrabbelte, immer wieder auf der Stelle einige Zentimeter in die Höhe hüpfte und einen insgesamt recht orientierungslosen Eindruck machte.
Schnell zog sich der Techniker aus dem Privatzimmer des Doktors zurück, schloss die Türe hinter sich und hoffte, dass dieser bis zum nächsten Tag vergessen haben würde, was der Grund seiner plötzlichen Störung gewesen war. Wer wusste, was ihm blühte, wenn der Doktor herausbekäme, dass er von ihm, einem einfachen Techniker, beim Schnüffeln von Drogen ertappt worden war!
Der Techniker war schon längst wieder gegangen, als Dr. Freak noch immer auf dem Boden herumkrabbelte, hin und wieder mit dem Kopf gegen eine Wand oder ein anderes Hindernis stieß und sehr genau spürte, wie die Pusteln in seinem Gesicht von Minute zu Minute größer wurden. Erst als er den Inhalt seines Magens im Zimmer verteilt hatte, fühlte er sich wieder besser, und es gelang ihm nach einigen Anläufen, sich auf sein Bett zu hieven, wo er ermattet liegen blieb und von der Welt nichts mehr wissen wollte.
15
In bedrohlich großen Lettern verkündete das Schild über dem Eingang der Schule das Motto, unter dem die Lehrinhalte an den Mann gebracht werden sollen:
NICHT FÜR DIE SCHULE, FÜR DAS LEBEN LERNEN WIR!
Das stimmte tatsächlich. In der Schule lernte man, wie man von schwächeren Kindern die Pausenbrote erpresste, nicht die selbst gemachten, mit grober Leberwurst oder klebriger Marmelade bestrichenen Vollkornbrote, sondern die im Bäckerladen gekauften Semmel, die mit Schokolade oder anderen leckeren Sachen belegt waren. Oder man lernte, wie man die neu eingeschulten Kinder hänseln konnte, bis diese weinen mussten, weil ihnen diese Erfahrung unbekannt war. Andere Kinder lernten, wie man den Klassenstrebern unauffällig Wasser in die Schultasche gießen konnte, wieder andere Kinder lernten, wie sie sich vor solchen Streichen retten und ihre Taschen rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten.
»Ihr da hinten, mehr aufgepasst!« Der Mathematiklehrer warf einen bösen Blick in die hintersten Reihen. »Also, wo war ich? Die Schnittmenge ergibt sich aus der Summe der beiden …«
Das kleine Mädchen lernte in der Schule, wie sie eine ganze Unterrichtsstunde überstehen konnte, ohne auch nur einmal aufzufallen. Das war schwer, weil nicht alle Lehrer sie in Ruhe lassen wollten, sondern Fragen nach den Hausaufgaben stellten, sie zur Mitarbeit ermahnten oder an andere Pflichten erinnerten,
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