Drachenblut
dem System umständlich ein- und aussteigen zu müssen: er installierte ein Zusatzprogramm, mit dessen Hilfe er während seines Aufenthaltes in der VR jederzeit durch Fingerzeig eine Menüleiste anfordern konnte, an der er weitere Optionen auswählen und entsprechend unkompliziert auf die Computergrafik Einfluss nehmen konnte. Er konnte das System sozusagen von innen heraus kontrollieren und die Wirksamkeit seiner Befehle noch vor Ort überprüfen.
Nachdem Virgil das Zusatzprogramm installiert hatte, nahm er sich erneut die Zeit, seine Arbeit in Ruhe zu überprüfen. Ihm gefiel durchaus, was er da sah. Aber dennoch, als er durch die Straßen ging spürte er intuitiv, dass etwas Wichtiges fehlte. Die Szenerie erschien ihm irgendwie irreal, trotz all seiner Bemühungen um Authentizität. Virgil konnte sich die Stadt lediglich ansehen, war sozusagen nur physisch anwesend, sofern man dies von einem Körper behaupten konnte, der sich in der Scheinwelt der VR bewegte. Solange Virgil nicht emotional und intellektuell in der VR aufging, solange war die Stadt nicht Realität. Wenn er aber an der Wirklichkeit, die er ja simulieren wollte, nicht teilnehmen konnte, dann war sie auch nicht mehr als nur eine Illusion. Sicher konnte Virgil alles berühren und ganz genau aus der Nähe betrachten. Das war aber auf Dauer alles recht unbefriedigend. Er hatte kein Ziel, außer eben anwesend zu sein. Er hatte keine Aufgabe, die seinen Aufenthalt im System rechtfertigen würde. Mit anderen Worten ausgedrückt: Was zum Teufel hatte er hier verloren?
Virgil erkannte, dass er trotz aller Anstrengungen noch weit davon entfernt war, wirkliches Leben zu schaffen, eine Realität, die einen Sinn hatte. Nachdem er diesen Missstand erkannt hatte, machte er sich sogleich an die Behebung desselben. Eigentlich lag die Lösung des Problems gar nicht so fern, es fehlten nämlich ganz einfach die Menschen, die diese Stadt bewohnten und deren Anwesenheit die Angelegenheit wesentlich interessanter machen würde.
So entwarf und konstruierte Virgil Menschen, große und kleine, dicke und dünne Menschen, er berechnete Erwachsene und Kinder, schöne und hässliche Menschen. Nun, nicht zu hässliche Menschen, das überließ er lieber dem wirklichen Leben, in dem es schließlich genug merkwürdige Gestalten gab. Aber hier im Computer bestimmte er, und deshalb entsprachen die Bewohner der Stadt seinem eigenen ästhetischen Ideal, das natürlich viel zu naiv und unentwickelt war, um anspruchsvolleren Maßstäben gerecht zu werden.
Und dennoch stellte ihn das Ergebnis seiner Programmierarbeit nicht zufrieden. Die Simulation war leicht zu durchschauen, die Menschen wirkten nicht richtig, sie waren einfach zu perfekt, um wirklich glaubhaft zu sein. Es waren leere Hüllen, Roboter, wenn man so wollte, gesichts- und farblose Schemen, die zwar wie Menschen aussahen und sich wie solche bewegten, denen aber nichts charakterlich Individuelles anhaftete. Niemand tat etwas Außergewöhnliches, es gab keine Aufregung oder Überraschungen, es fehlte einfach das chaotische Element, das diese Stadt erst lebenswert machen könnte.
Anstatt dieses Element vom Rechner mit großem Aufwand zusätzlich nachahmen zu lassen, kam Virgil auf die Idee, anstatt etwas hinzuzufügen einfach etwas wegzulassen. Die Menschen waren nicht perfekt, galten schon in diesem Sinne als unberechenbar , folglich durfte seine Simulation ebenso wenig perfekt sein. Auf dem Marktplatz forderte Virgil eine Menüleiste an und öffnete die entsprechende Datei. Das Hilfsprogramm, welches für die Kalkulation der Stadtbewohner zuständig war, versuchte er nicht durch Einbeziehung und Berücksichtigung aller nur denkbaren menschlichen Charaktereigenschaften zu perfektionieren. Er schrieb das Programm lieber dergestalt um, dass es in der Darstellung der Menschen Unregelmäßigkeiten, ja kleine Fehler gab, was ein überzeugenderes Ergebnis zur Folge hatte.
Die Bevölkerung, willkommen wie sie war, warf für Virgil ein neues Problem auf, er war nun nicht länger der einzige Mensch in der Stadt. Wenn er die Menschen sehen konnte, dann mussten auch sie ihn wahrnehmen können. Schließlich handelte es sich um ein interaktives System, an dessen Perfektionierung er lange genug gearbeitet hatte. Es stellte sich also die Frage, wie er am unauffälligsten die VR betreten und eine Szene vermeiden konnte. Freilich hätte sich Virgil mit Start des Programms einfach irgendwo auf der
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