Drachenblut
Straße materialisieren können. Für die Stadtbewohner wäre sein Auftauchen aus dem Nichts (was konnte die Welt außerhalb der VR für diese Unwissenden anderes sein) wohl recht spektakulär gewesen. Virgil hätte auch standesgemäß auf einer Wolke in die Menge hernieder fahren können. Ein solcher Auftritt hätte ihm gut gefallen. Aber diesen Einfall verwarf er gleich wieder als zu wenig originell, das war doch alles schon einmal da gewesen. Nach einigem Nachdenken mietete sich Virgil irgendwo in der Stadt ein Büro, in dem er die VR diskret betreten und seine Ausflüge in die Stadt beginnen konnte. Virgil rückte sich seinen VR-Helm zurecht, überprüfte den korrekten Sitz seines Datenhandschuhs und ging auf die Straße hinaus.
Es schien, als hätte sich Virgil bezüglich seiner Wirkung auf die Stadtbewohner unnötig Sorgen gemacht. Selbst in seiner schweren VR-Ausrüstung wurde er kaum beachtet, mit wenigen Ausnahmen vielleicht, denn da war dieser aufdringliche Verrückte, der Virgil für einen Außerirdischen hielt und ihn in einer unverständlichen Sprache im Namen der Flugsicherung auf der Erde begrüßte. Er drückte Virgil noch ein Formular in den Datenhandschuh und verwies auf die klein gedruckten Anmeldebestimmungen für extraterrestrische Besucher. Ein anderer Spinner glaubte in Virgil einen berühmten Automobilrennfahrer zu erkennen und gab nicht eher Ruhe, bis er endlich ein Autogramm erhalten hatte.
Eine Mutter war den mannigfaltigen Belastungen des Einkaufsbummels nervlich nicht länger gewachsen und zerrte ein kleines Mädchen durch die Kaufhäuser. Autos standen im Stau, die Fahrer hupten aufgeregt und gestikulierten, um dadurch schneller freie Fahrt zu erhalten. Ein Irrglaube, der wie so viele der anderen Unpässlichkeiten und Missgeschicke, mit denen die Protagonisten und auch die Statisten zu hadern hatten, der Software zuzuschreiben war, mittels der Virgil seiner Stadt den letzten Schliff gegeben hatte.
Eine fettige Leberwurst rempelte Virgil an.
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Der verkleidete Student konnte in seiner unbequemen Werbemontur kaum auf die Straße sehen und war darauf angewiesen, dass ihn die bedrängten Passanten in die richtige Richtung weiterschubsten.
Ein Senfglas war von einer Windböe erfasst und umgeworfen worden. Verzweifelt versuchte es wieder auf die Beine zu kommen, ruderte mit seinen Armen und Beinen in der Luft herum und rief nach seinem Freund, der Leberwurst. Ein struppiger Hund rannte aufgeregt um das am Boden liegende Senfglas herum und verbiss sich dann in der Leberwurst, die herbeigeeilt war und nach ihm getreten hatte.
Zufrieden schlenderte Virgil durch die überarbeitete Variante seiner Stadt (das komplette Softwarepaket nannte er DREAM CITY, Version 103.7, eine spätere kommerzielle Auswertung war ja nicht ausgeschlossen). So sehr gefiel ihm seine Stadt, dass ihn wunderte, warum er noch nicht auf den Gedanken gekommen war, etwas daran kaputt zu machen. Dem Ideal einer realen Metropole war er augenscheinlich sehr nahe gekommen, die Stadt wirkte menschlich. Wie zum Beweis seines Erfolges wurde Virgil eine Straßenecke weiter von zwei abgerissenen Subjekten überfallen, die ihn seiner Barschaft und des Datenhandschuhes berauben wollten. Den Verlust des Geldes hätte er noch verschmerzen können, das Abhandenkommen des Handschuhs konnte er aber unter keinen Umständen hinnehmen. Damit würde ihm ein weiteres Fortbewegen in der VR nicht mehr möglich sein. So entwickelte sich auf dem Gehweg eine kleine Rangelei, in deren Verlauf einer der beiden Halunken den ausgestreckten Zeigefinger packte, mit dem Virgil immer wieder in die verschiedensten Richtungen zu zeigen versuchte, um sich schnell aus dem Staub zu machen. Jetzt, wo der Bursche an seinem Finger zog, wurden diese Bewegungen über den Datenhandschuh an den Rechner übertragen, folgerichtig als Steuerbefehle interpretiert, und Virgil machte unwillkürlich einen Schritt vorwärts, um dann, wenn sein Zeigefinger wieder in eine andere Richtung gebogen wurde, in eine andere Richtung gezwungen zu werden. Virgil war schon ganz schwindlig geworden, als die beiden Räuber endlich beschlossen, sich mit dem Bargeld zufrieden zu geben und das Weite zu suchen. Virgil musste noch froh sein, dass sie ihm nicht den Finger gebrochen hatten.
Aus einem Nachtclub tönten Melodiefetzen und dumpfe Rhythmen auf die Straße heraus.
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