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Drachenblut

Drachenblut

Titel: Drachenblut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Lee Parks
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Neugierig trat Virgil näher. Woher die Musik nur kommen mochte? Er konnte sich nicht erinnern, den Rechner entsprechend programmiert zu haben. Aber was er hörte, war eindeutig Musik, mehr als nur organisierter und arrangierter Lärm, der als übliche Geräuschkulisse zur VR gehörte. Die Melodie, die Virgil vernahm, vermittelte ihm nicht lediglich akustisch, was er ohnehin gerade sah oder erlebte, diese eigenartige Melodie führte ihm Dinge vor Augen, die ihm die VR nicht vermitteln konnte, diese Melodie war vom Standpunkt einer realistischen Computersimulation her einfach nicht nötig.
        Virgil stieg die Treppen zum Club hinunter. Der bleiche Musiker, der dort von Synthesizern und sonstigen Maschinen zur elektronischen Klangerzeugung umringt, auf der Bühne stand, sang von künstlichen Wesen und, sofern Virgil die Texte richtig verstehen konnte, von der Assimilation des Menschen durch die Technik, die sich dieser selbst geschaffen hatte. Der Sänger war von der progressiven Welle, ein so genannter »Neuer Mann«. Wir seien Maschinen, behauptete er da in seinen Liedern, er fragte, ob 'Freunde' elektrisch seien, und er träume von Drähten. Sich selbst und seine Welt beschrieb er als Produkte eines Universums, in dem der Mensch seine Funktion eben als Mensch verloren hatte, da es nichts Existentielles gab, was die Maschinen nicht auch waren, wodurch es der Spezies Mensch schlussendlich nicht mehr zwingend bedurfte, weil ihre eigene Existenz nicht länger mit dem Hinweis auf deren Einzigartigkeit zu rechtfertigen war.
        Solange aber noch ein leibhaftiger Mensch auf der Bühne stand, überlegte sich Virgil, während die künstlichen Klänge in sein Unterbewusstsein sickerten und dort von seiner Phantasie gierig aufgenommen wurden, solange gab es noch Hoffnung, trotz aller düsteren Visionen von der Wandlung des Menschen zur Maschine. Es machte schließlich keinen Sinn, würde ein Automat davon singen, eben eine Maschine zu sein. Ein Computer würde wohl kaum den Verlust der Menschlichkeit beklagen. Wüsste er tatsächlich um die Qualitäten der Menschlichkeit, wäre er sich des Unterschiedes zwischen beiden Existenzformen bewusst, dann könnte man behaupten, der Computer sei in Wahrheit keine Maschine, sondern ein Mensch, der sich nur einbilde, sein Herz verloren zu haben.
        Es blieb die Frage, woher die Musik stammte. Eines war sicher, Virgil hatte sich nicht die Mühe gemacht, diese Lieder ins Programm einzuspielen. Konnte es sein, dass das System die Klänge selbständig erzeugte? Vielleicht durch irgendwelche systemimmanenten elektromagnetischen Schwingungen, die sich zufällig zu einer Melodie zusammenfanden? Zu dieser Theorie passte allerdings nicht dieser Sänger. Es konnte unmöglich Zufall sein, dass der Rechner zu einer willkürlichen Melodie (wusste der Rechner denn, was Melodie war?) eine passende visuelle Information erzeugte. Das Programm war nicht flexibel genug, um auf Ereignisse in der Simulation zu reagieren, die nicht schon in ihm selbst als Möglichkeit berücksichtigt waren. Wusste der Rechner also, was er tat? Wenn ja, dann war das Programm im Laufe der Zeit, durch Hinzufügung und Verbesserung, immer komplexer geworden, bis es ein eigenes Bewusstsein entwickelt hatte, das es selbständig agieren ließ. Virgil stellte sich vor, die VR, in der er sich bewegte, wäre das zu Fleisch gewordene Bewusstsein eines riesigen elektronischen Gehirns. Fleisch, das nicht war, das er aber erfahren konnte. Das Gehirn einer Maschine, ein Gehirn, in dem er sich aufhalten, das er erforschen, mit den Mitteln der VR begreifen konnte. Diese Vorstellung fand Virgil sehr aufregend. Wusste dieses Bewusstsein, dass er in ihm war? War er selbst nur ein Gedanke, den sich das System ausgedacht hatte? Aber wie wirklich war die Stadt jenseits der Illusion? Stellte er, geblendet vom goldenen Schein des Seins, zu geringe Anforderungen an diese neue Wirklichkeit?
        Virgil musste herausfinden, ob sich die Simulation durchbrechen ließ, ohne dass er planmäßig über die Menüleiste aus der VR ausstieg. Dazu musste er eine extreme Situation provozieren, auf die das Programm keine Antwort parat hätte. Er musste sich innerhalb der VR in eine Lage versetzten, in der auch im wirklichen Leben mit Sicherheit die Grenzen der möglichen Sinneserfahrungen erreicht sein würden, jenen Punkt, an dem sich buchstäblich die Geister schieden. Eine gezielte Überlastung des Systems würde dessen Zusammenbruch

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