Drachenblut
herbeiführen. Die Konsequenz wäre die Aufhebung der Illusion und die damit unweigerlich verbundenen Rekonstitution der Wirklichkeit, oder einfach ausgedrückt: Exit durch Exitus!
Virgil verließ den Club und suchte nach dem höchsten und gewaltigsten Hochhaus, das er finden konnte. An der südlichen Ecke des Stadtparks wurde er fündig, hier befand sich das Verwaltungsgebäude der Federal Trust Bank (wer sonst hätte sich ein solch imposantes Gebäude leisten können?). Mit dem Aufzug fuhr er hinauf zum obersten Stockwerk und ging die restlichen Stufen zu Fuß, bis er auf dem Dach des Wolkenkratzers stand und auf die Stadt hinunterschauen konnte. Die Menschen wirkten von hier oben wie kleine schwarze Punkte, was sie im Grunde auch waren, denn die Leistungsfähigkeit der Computergrafik war unter diesen Bedingungen beinahe ausgereizt. Mit kleinen Schritten arbeitete sich Virgil an die vorderste Kante des Daches heran, bis seine Schuhspitzen schon ins Freie hinausragten und er das Gleichgewicht nur mit Mühe halten konnte. Angespannt atmete Virgil tief durch, er musste nur noch einen Schritt nach vorne machen, um die Wahrheit herauszufinden, nur einen winzig kleinen Schritt, der ihm die Grenzen der VR aufzeigen und aufschlussreiche Erkenntnisse über die Funktion des Systems an sich vermitteln würde. Würde er unendlich lange fallen, weil das Programm einen derartigen Aufprall als Möglichkeit nicht kannte? Würde er aufschlagen, alles einfach nur schwarz um ihn herum werden und ihn das System anschließend einfach aus der VR entlassen? Könnte die VR-Ausrüstung beschädigt und unbrauchbar werden? Was dann? All diese Fragen würden in wenigen Sekunden beantwortet sein.
Der Wind fuhr Virgil durch die Haare, und er spürte das Hochhaus unter seinen Füßen wanken. Dann fasste er all seinen Mut zusammen - trat zurück und nahm den Aufzug, der ihn wieder sicher hinunter brachte. An einer Tankstelle kaufte sich Virgil noch schnell ein paar Dosen Bier und ging nach Hause, um den Abend vor dem Fernseher gemütlich ausklingen zu lassen.
26
Der Regisseur hielt nach seinem Hauptdarsteller Ausschau. Das Drehbuch war auf Wunsch des Produzenten in letzter Minute geändert worden, und es war verständlich, dass jeder Beteiligte vor Aufnahmebeginn davon Kenntnis haben sollte. Dr. Freak war bekannt dafür, dass er das Drehbuch sehr frei auslegte, er nannte das künstlerische Freiheit, andere nannten es das Unvermögen, drei Zeilen auswendig zu lernen, und um so notwendiger war es, dass er rechtzeitig über die Änderungen Bescheid wusste, damit die Arbeit am Set halbwegs reibungslos verlief. Entnervt sauste der Regisseur durch die Gänge des Studios und klapperte die Umkleideräume hinter der Bühne ab, in denen sich die Statisten für ihren Auftritt herrichteten.
»Wo ist Dr. Freak? In fünf Minuten sind wir auf Sendung, und kein Mensch weiß, wo er geblieben ist!«
»Vielleicht versuchen Sie es einmal in der Maske. Ich glaube, dort hat er sich vor einiger Zeit noch herumgetrieben. War wohl mit seinen Verstümmelungen noch nicht ganz zufrieden.«
Der Regisseur murmelte etwas Unverständliches und eilte in Richtung des Schminkraumes davon.
»Der Doktor? Nein, der ist heute noch nicht hier gewesen. Wohl möglich, dass er sich in der Requisite herumtreibt. Ich hab gehört, sein Armstumpf müsste erneuert werden.«
In der Requisite wusste man immerhin, dass Dr. Freak tatsächlich vor einer halben Stunde da gewesen war und ein Päckchen mit Backpulver abgeholt hatte. Der Mann an der Ausgabe schaute hier nochmals auf seine Ausgabeliste und vergewisserte sich, dass er sich korrekt erinnerte, jawohl, Backpulver war es gewesen, was der Herr Doktor verlangt und erhalten hatte.
»Damit ist er meines Wissens nach hinten ins Labor gegangen, irgendwelche Experimente durchführen, die auf dem Drehplan stehen.«
Der Regisseur bedankte sich und steuerte in aller Eile auf das Labor zu, das er nach wenigen Minuten erreichte und ohne anzuklopfen betrat.
DREHBUCHAUSZUG: SONS OF STEEL / FOLGE 37
22/A - LABOR DR. FREAK / TAG / HALBNAH
Dr. Freak sitzt an seinem Schreibtisch. Vor ihm liegt ein Taschenspiegel auf dem Tisch. Dr. Freak greift in die Innentasche seines Arbeitsmantels und bringt einen unauffälligen Umschlag zum Vorschein. Er öffnet das Couvert und schüttet den Inhalt, eine nicht geringe Menge eines weißen Pulvers, auf den Spiegel. Mit der Kante
Weitere Kostenlose Bücher