Drachenbraut
Sein Anblick war für einen Moment beängstigend, wenn auch seine Hände auf ihrer Schulter weiterhin Sicherheit versprachen.
«Wenn ich es dir sage, suchst du dir ein Versteck. Im Dickicht. Bleib dicht am Boden.» Seine Stimme war ganz ruhig.
Sie ließ hastig den Blick schweifen, sah aber keinerlei Gefahr. Zu ihrer Linken öffnete sich der Abgrund, der den Weg bereits seit einigen hundert Metern säumte, und rechts von ihnen erstreckte sich undurchdringlicher Mischwald. Aber seine Anspannung war auf sie übergesprungen und ihr Körper produzierte massenhaft Adrenalin.
«Was?»
Sie trat instinktiv einen Schritt zur Seite, dichter zum belaubten Gebüsch zu Füßen der mächtigen Stämme. Der einzigen Möglichkeit in direkter Nähe, sich zu verstecken.
«Handlanger. Keine Dunkelalben, aber gefährlich. Luftwesen. Der Erdboden ist ihnen fremd, sie halten sich fern davon.»
Er drehte sich um und blickte auf den weiten Horizont, der sich vor ihnen über dem Abgrund auftat. Sie folgte seinem Blick. Aber außer tief im Tal hängendem Bodennebel und einem leichten Dunst in den höher gelegenen Ebenen konnte sie nichts entdecken. Allerdings spürte sie nur Sekunden später ein leises und unangenehmes Summen in der Brust.
Sein Blick ruckte zu ihr. «Immer wenn du das spürst, läufst du. Verstanden?»
Seine Worte waren scharf. Ihr stockte der Atem. Solange sie die Gefahr nicht kannte, würde sie tun, was er verlangte. Alles andere wäre töricht gewesen.
«Lauf!»
Ihr Körper schaltete augenblicklich in ein Überlebensprogramm. Sie rannte die wenigen Meter bis zum nächstgelegenen Dickicht. Ohne Rücksicht auf Dornen und andere Hindernisse stürmte sie tiefer hinein in die Dunkelheit aus Blättern und Ästen. Weg von diesem Summen. Sie hörte ihr eigenes Blut hektisch in den Adern rauschen.
Das Summen wurde mit jedem Schritt, den sie tat, stärker und Angst krampfte ihren Magen zusammen. Ein brachialer Schrei durchbrach die Stille des Waldes. Instinktiv ließ sie sich auf die Knie fallen und drehte sich so weit um, dass sie durch das wogende Blättermeer einen Teil des Weges erkennen konnte.
Valentin stand unerwarteterweise immer noch an Ort und Stelle, jetzt mit dem Gesicht zu ihr. Er hatte sein Shirt ausgezogen und den Kopf gehoben. Sie konnte ihn aus dieser Perspektive und mit Blättern im Sichtfeld nur schemenhaft erkennen, aber die tödliche Konzentration, die ihn umgab, konnte sie dennoch spüren.
Wieder ertönte ein Schrei. Weit entfernt davon, menschlichen Ursprungs zu sein.
Schatten. Sie sah Schatten, die an einem der gegenüberliegenden Berge plötzlich im Fels zu hängen schienen. Ihre Angst veränderte sich schlagartig. Was ihr folgte, drückte ihr vorübergehend die Luft ab. Irgendein uraltes Programm in ihren Genen löste eine ultimative Super-GAU-Warnung aus.
Im nächsten Moment sprang Valentin in die Tiefe. Die Arme zur Seite ausgestreckt, mit dem Rücken zum Abgrund ließ er sich einfach nach hinten kippen. In dem Augenblick, in dem er absprang, jagten die Schatten in rasender Geschwindigkeit auf sie zu. Das Summen breitete sich durch ihren ganzen Körper aus, wurde schlagartig ohrenbetäubend.
Sie versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bekommen, und so dauerte es eine ganze Weile, bis sie begriff, dass neben dem Surren noch ein anderes Geräusch die Luft über dem Tal zum Schwingen brachte.
Im ersten Moment klang es wie der kraftvolle Steigflug eines großen Jagdvogels, hundertfach verstärkt. Unfassbar große Schwingen teilten die Luft. Das Geräusch fuhr ihr durch Mark und Bein. Ganz plötzlich überkam sie ein starkes Déjà-vu. Eine Erinnerung an ihre Träume schoss durch ihren Kopf und eine Sekunde später erhob der Drache sich vor ihren Augen in den Himmel.
Er hatte nichts mit den Mythen und Märchen gemein. Er war tiefschwarz und seine Haut glitzerte verheißungsvoll in der aufgehenden Sonne, als er für Sekunden still in der Luft zu verharren schien. Jadegrüne Augen stachen glänzend aus dem Schwarz seines Drachengesichtes hervor. Prachtvoll war das einzige halbwegs greifbare Wort, was ihr Geist bei diesem Anblick produzierte. Sogar ihre Angst vergaß sie für einen Moment. Niemals zuvor hatte sie etwas so Schönes gesehen.
Seine schier unermessliche Größe verdunkelte den gesamten Berghang. Er manövrierte sich durch einen einzigen weiteren kraftvollen Schlag mit den ausladenden Schwingen kopfüber tiefer in das Tal und verschwand aus ihrem Sichtfeld. Sekunden später
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