Drachenelfen - Die gefesselte Göttin (German Edition)
auf ihn stürzen sollten, würde er wohl kaum in Gefahr geraten. Aber er wollte kein Auf sehen erregen. »Ich sagte doch, ich bin verflucht. Als Kind hatte ich schöne, himmelblaue Augen. Doch dann stachelten meine Freunde mich zu einer Mutprobe auf. Ich schlich in einer stürmischen Nacht in den Geisterhain, der tief im Wald lag. Ich war fast verrückt vor Angst. Als Blitze in die Bäume um mich herum einschlugen, begann ich zu laufen. Ich übersah eine Wurzel, stürzte schwer und habe mir derart den Fuß verstaucht, dass ich nur noch kriechen konnte. In unseren Wäldern gibt es Wölfe. Einer von ihnen fand mich. Er merkte sofort, dass ich leichte Beute war, aber allein griff er nicht an. Stattdessen stimmte er ein unheimliches Geheul an. In diesem Augenblick hörte ich die Stimme meines toten Onkels in den rauschenden Blättern. Der Sturmwind zerrte an den Ästen. Die alten Schwerter klirrten, und immer wenn ein Blitz niederging, sah ich den Wolf zwischen den Bäumen. Ein großes, hageres Biest mit struppigem Fell. Er hatte nur noch ein Ohr. Seine Schnauze war voller Narben und seine Augen so blau wie die meinen. Mein Onkel sagte, er wolle mir helfen. Ich sollte den Mund weit öffnen und an ihn denken, so wie ich ihn zuletzt beim Mittwinterfest gesehen hatte. Ein paar Tage später war er im Wald ermordet worden. Man fand nie heraus, wer es gewesen ist.«
»Schmeckt dir mein Essen nicht mehr?« Rabal knallte einen Krug Wein und zwei angeschlagene Tonbecher auf den Tisch.
»Alles gut.« Usia wischte Bohnen und Reis von der schmutzigen Holzplatte. »Alten Männern fällt schon mal was aus dem Mund. Das kennst du doch.«
»Ich habe noch all meine Zähne. Ich bin kein alter Mann«, entgegnete Rabal brüskiert und ging wieder.
»Du hast also den Geist deines Onkels in den Bäumen gehört. Und dann?«, fragte Usia drängend.
»Eines der Bronzeschwerter stürzte aus dem Geäst. Es fiel direkt neben mir zu Boden. Ich war wie erstarrt, doch der Geist bedrängte mich, es zu nehmen und endlich meinen Mund aufzumachen. Ich hatte entsetzliche Angst. Er wollte in mich fahren, weißt du? Jedes Kind in Drusna kennt diese Geschichten. Dann fuhr ein Blitz nieder, und ich sah, dass jetzt drei Wölfe da waren. In dem Moment habe ich meinen Mund so weit aufgerissen, wie ich konnte … Seitdem geschehen manchmal Dinge, die ich angeblich getan habe, an die ich mich aber nicht mehr erinnern kann. Angefangen hat es in jener Nacht.
Als ich am nächsten Morgen gefunden wurde, hielt ich das blutige Schwert meines Onkels in der Hand. Später entdeckte der Priester des Geisterhains zweiWölfe, die sich tödlich verletzt davongeschleppt hatten. Dazu musst du wissen, dass man meinen Onkel ohne sein Schwert in den Bäumen bestattet hatte. Es war nie gefunden worden. Auch meine Augen hatten sich verändert. Seit jener Nacht sehen sie so aus wie jetzt.«
Usia schenkte zwei Becher ein. »Gute Geschichte. Lass uns darauf anstoßen.«
Nodon nippte zögernd am Wein. Er war mit Honig gepanscht worden.
»Und wegen dieser Sache und deinen Augen hat man dich verstoßen?«
»Verstoßen wurde ich wegen der drei Toten.«
»Welcher Toten? Heraus damit. Ich kann es nicht leiden, wenn man anderen die Geschichten Brocken für Brocken aus der Nase ziehen muss.«
»Fünf Jahre später war ich auf einem Fest im Nachbardorf. Ich geriet in Streit mit drei Männern. Einer von ihnen trug die Brosche meines Onkels an seinem Umhang. Ein unverwechselbares Stück: Sie sah aus wie ein Bär. Wieder kann ich mich nicht genau erinnern, was geschehen ist. Angeblich habe ich alle drei mit einem abgebrochenen Ast erschlagen. Ich wurde als Mörder vor unseren Fürsten gebracht. Meine ganze Sippe glaubte mir und unterstützte mich, aber die Frau des Toten mit der Brosche behauptete, er habe sie am Markttag von einem fliegenden Händler gekauft. Mein Volk legt großen Wert darauf, in Frieden mit seinen Geistern zu leben. Deshalb wurde ich nicht hingerichtet, aber mein Urteil lautete auf Verbannung. Ich war vierzehn. Seitdem verdinge ich mich als Söldner, und mir eilt ein gewisser Ruf voraus.«
Usia pfiff leise zwischen den Zähnen. »Das nenne ich mal eine Geschichte. Also wenn ich deine Augen nicht gesehen hätte, würde ich dir kein Wort glauben.« Er hob seinen Becher. »Auf alle kleinen Jungen, denen Unrecht widerfahren ist.«
Nodon fragte sich, ob der Alte das ironisch meinte, prostete ihm aber dennoch zu. »Nun bist du mit einer Geschichte dran. Bist du jemals
Weitere Kostenlose Bücher