DRACHENERDE - Die Trilogie
waren, dann ging er vorwärts, bis er sich schließlich unter der großen Kuppel befand. Er blieb stehen, sah hinauf, schloss dann die Augen und spürte den Geistern und Kräften nach, die in diesen Mauern wirksam gewesen waren.
Er sah Ubranos Tod vor sich, als wäre es eine reale Erinnerung für ihn. Ein Ninja in Rajins Diensten hatte ihn umgebracht. Magie schützte eben nicht gegen jede Bedrohung. Ein zynisches Lächeln spielte um Abrynos' schmallippigen Mund.
Aber da waren noch mehr Seelenreste, die in diesem Gemäuer mehr oder minder gefangen waren.
Nya, die Geliebte Rajins, und ihr ungeborener Sohn Kojan. Dort hatte der gläserne Sarg in der Luft gehangen, den Rajin aus der Zitadelle mitgenommen und nach Sukara gebracht hatte. Aber ein Teil ihrer Seelen war noch hier. Ihr Schmerz hing in dieser kühlen, modrigen Luft - die Verzweiflung Rajins und die Sorge einer jungen Mutter um ihr ungeborenes Kind. Ubranos hatte sie zu Marionetten in seinem perfiden Spiel gemacht, und unter den Emotionen, die daraus resultierten, war auch eine Menge Hass. Sehr gut. All das ergab eine Mischung, die sich gut einsetzen lässt, wenn man all dies zusammenfügte.
In dem Moment, da Abrynos aus Lasapur im Gewölbe unter Burg Sukara vor dem gläsernen Sarg Nyas stand, hatte der Schattenpfadgänger mit seinen magischen Sinnen auch das Innere der Kathedrale gesehen und gewusst, dass Nya an einem ganz besonderen Ort gewesen war. Zumindest ihr Körper. Wo sich ihr Geist befand, war eine ganz andere Frage.
Abrynos breitete die Arme aus und atmete tief durch. Die Kraft dieses Raumes würde ihm viele Jahre zurückgeben, die er durch seine jahrzehntelange Schattenpfadgängerei an Lebensspanne verloren hatte, wusste der Magier.
Immer weiter streckte er die unsichtbaren Fühler seiner magischen Sinne aus, denn da war noch eine sehr viel größere Quelle seelischer Kraft.
Wulfgarskint …
Eine weiße Schneelandschaft tauchte vor Abrynos' innerem Auge auf. Ein Ort an der Küste und Drachenreiter, die dort ein Gemetzel anrichteten. Das musste Winterborg sein, erkannte Abrynos. Ein kleiner Ort von Seemammutjägern am beinahe entlegensten Punkt der fünf Reiche, der zu trauriger Berühmtheit gelangt war, weil durch den Angriff der Drachenarmada dort der Krieg zwischen Drachenia und dem Seereich ausgelöst worden war. Das war also der Anfang. Der Beginn von so vielem, dass er sich zunutze machen konnte …
Seelen- und Erinnerungsfetzen hingen in der Luft, und Abrynos setzte aus ihnen nach und nach ein Mosaik zusammen:
Wulfgarskint, der Sohn von Wulfgar Wulfgarssohn, dem Seemannenkrieger, bei dem Prinz Rajin aufgewachsen war. Immer schon waren sie Rivalen gewesen, seit dem Tag, da dieser fremde, mandeläugige Säugling, den sie Bjonn Dunkelhaar nannten, auf Winterland ausgesetzt worden war. Rivalen um die Gunst des Vaters und um die Gunst des Schicksals gleichermaßen. Aber wie konnte jemand Gerechtigkeit vom Schicksal erwarten, der einem Volk angehörte, das an einen trunksüchtigen Schicksalsgott glaubte?
Abrynos sah vor seinem geistigen Auge jenes Gemetzels, dass dazu hatte dienen sollen, den letzten potenziellen Thronfolger aus dem Hause Barajan zu töten, und dem stattdessen nur Unbeteiligte zum Opfer gefallen waren.
Ihr habt den Euren kein Glück gebracht, Prinz Rajin! Habt Ihr darüber schon einmal nachgedacht?, ging es dem Magier durch den Kopf. Sie alle wurden getötet. Auch Wulfgarskint Wulfgarssohn, mit dem Ihr wie ein Bruder aufgewachsen seid und mit dem Euch derselbe, nur unter Brüdern zu findende Hass verband. Aber der Traumhenker hat ein Einsehen gehabt und Wulfgarskint wiedererstehen lassen. Er folgte denen, die Euch verfolgten, Prinz Rajin – und geriet in die Fänge von Ubranos, dem Magier des Usurpators …
Ubranos hatte das getan, was nahelag. Er hatte den Hass Wulfgarskints für sich zu nutzen gewusst – einer Kreatur, die längst schon kein Mensch mehr gewesen war, sondern eine Manifestation des reinen Hasses. Ein Monstrum, das zumeist einer aufrecht gehenden Riesenratte geähnelt hatte, seine Gestalt aber auch verändern konnte und als Wolke kleinster schwarzer Teilchen wie ein Insektenschwarm über das Land flog …
„Wulfgarskint? Hörst du mich?“, rief Abrynos.
Da war nichts weiter als ein Murmeln des Geistes, das ihm antwortete. Ein Rumoren geistiger Seelenfetzen, von denen ein beträchtlicher Anteil aber noch erkennbar von diesem Monstrum stammte, zu dem Wulfgarskint einst geworden war, nachdem er
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