Drachenglut
Altarraum und jede Menge ländliche Stille und Frieden.
Sogar diese Information stimmt nicht mehr, dachte Tom. Der Gebetsraum war vor Jahren geöffnet und renoviert worden, und was den Frieden und die Stille betraf, so war heute Morgen davon in St. Wyndham wenig zu spüren gewesen.
Die Broschüre bestand in der Hauptsache aus einer langweiligen Aufzählung von Rotary Clubs, wohlt ä tigen Spendern und Kaffeekränzchen, die Tom nur zu gut kannte. Er blätterte ungeduldig weiter, bis ein Absatz mit der Überschrift Unser reiches Erbe sein Interesse weckte.
Obwohl die jahrhundertealte Tradition christlicher Religion sich in unserem Dorf siegreich durchsetzte, gab es in unserer Gemeinde heidnische Traditionen, die trotz der Bemühungen unserer aufgeklärten Geistlichen, ihnen ein Ende zu bereiten, noch weiter bestehen blieben. Heute handelt es sich dabei z u meist um harmlosen Aberglauben, der niema n dem etwas zuleide tut, aber so war es nicht immer. Fo r drace war einmal der Mittelpunkt eines Hexe n wahns, der unseren Vorfahren viel Sorge bereitete, und E x orzismus war damals durchaus üblich.
Das war alles. Heidnische Traditionen …
Tom runzelte die Stirn.
Wonach suchte er eigentlich?
Schwierig zu sagen. Falls Mrs Troughton recht hatte, besaß seine Kirche möglicherweise eine größ e re historische Bedeutung, als man bislang angeno m men hatte, und dann musste er unbedingt mehr über ihre Vergangenheit wissen. Aber da gab es auch noch Mrs Gabriel. Das war zwar eine törichte alte Frau, aber sie maß dem Kreuz offensichtlich eine mehr als nur archäologische Bedeutung bei, und im Hinblick auf den Diebstahl – diesen äußerst rätse l haften Diebstahl – erschien es ihm plötzlich sinnvoll, mal an der Oberfläche dieses harmlosen Abergla u bens zu kratzen, was immer das auch sein mochte.
Auf der Rückseite der Broschüre fand er eine ku r ze Bibliographie und darin folgenden Hinweis:
Für genauere Einzelheiten bezüglich der hiesigen Überlieferungen empfiehlt sich die Lektüre der L e genden von Fordrace und dem Wirrim (1894) von H a rold Limmins, einem Lehrer und Gelehrten der hies i gen Gegend. Das Buch wurde zwar vor mehr als hundert Jahren veröffentlicht, doch es ist bis heute die einzige Quelle, die sich dem Gegenstand ausfüh r lich widmet.
Na, das war es doch. Das hörte sich schon besser an.
Tom sah auf seine Uhr. Er wollte Sarah bald anr u fen und sich nach dem Jungen erkundigen. Doch z u erst … Er stand auf und ließ den Blick begierig über die Buchrücken wandern.
Aus der nächsten Regalreihe kam Ms Sawcroft, beladen mit einem Bücherstapel, und lächelte ihn an. »Na, haben Sie was gefunden?«
»Ich nähere mich meinem Ziel«, antwortete er und suchte weiter.
11
An diesem Morgen zeigte sich der Wirrim von seiner schönsten Seite. Über die Talmulden ergoss sich der frühe Sonnenschein und überzog die Wi e senhänge und schroffen Felszinnen mit einem gold e nen Schimmer. Nur die Schluchten auf der Südseite bli e ben im Schatten, wo kalte Bäche in dünnen Wasse r fällen von Felsstufe zu Felsstufe stürzten, immer e t wa dreißig Meter tief. Der Wind war frisch und krä f tig und Wolken schwebten vereinzelt am Hi m mel und warfen verspielte Schatten auf die helle E r de.
Stephen und Michael nahmen fast nichts davon wahr. Stephen war noch schockiert von der Leichti g keit, mit der sein Bruder den verbotenen Schwur g e leistet hatte, und fühlte sich deshalb sehr unwohl. Er war bereit, Mi chael zu folgen – so viel schuldete er dem Schwur. Aber wenn Michaels Geschichte sich als Fa n tasie und Lüge herausstellte, dann wusste St e phen nicht, was er tun sollte. Ordentlich durchpr ü geln wäre wohl das Richtige, aber darüber wäre Sarah wah r scheinlich noch aufgebrachter als über Michaels Ve r halten. Sie hatte in den vergangenen M o naten hohe Erwartungen in den Zusammenhalt ihrer kleinen F a milie gesetzt, und Stephen und Michael hatten sich alle Mühe geg e ben und sich mit dem Streiten zurüc k gehalten. Aber jetzt – Stephen kickte einen Kiesel vom Weg – hing diese Zurückhaltung an einem sehr dünnen F a den.
Michael fand sich mit instinktiver Geschicklic h keit auf dem steilen Pfad zwischen den Felsblöcken zurecht. Gleich nachdem er seinem Bruder alles e r zählt hatte – was gleichzeitig eine Rechtfertigung und eine Herausforderung darstellte –, hatte er es auch schon wieder bereut. Er bereute nicht seinen wilden Schwur, denn e r hatte die
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