Drachenglut
Wahrheit gesagt, er bereute auch nicht, dass er Stephen den geheimen Platz zeigte. Eher weil … na ja, er war sich nicht s i cher, ob Stephen dieses besondere Wissen verdient hatte. Während die Morgenstunden verstrichen und sie immer höher hinaufstiegen, wuchs in ihm die n a gende Gewissheit, dass er das Geheimnis für sich hätte behalten sollen. Es lag nur an seiner Schwäche, dass er davon geredet hatte, an seinem aus der Schwäche erwachsenen B e dürfnis, sich mitzuteilen. Aber wie durfte er etwas so Einzigartiges und B e sonderes überhaupt jemandem mitteilen?
Das galt auch für seinen Bruder. Stephen besaß nicht das leiseste Verständnis für so etwas, er hatte dafür keinen Sinn. Er war nur ein gewöhnlicher Ju n ge, das einzige Besondere an ihm war die versteckte Schönheit seines Gesichts.
Zweimal war Michael in der ersten Phase des Aufstiegs – als sie den Russet-Wald auf Viehpfaden und Wanderwegen umgangen hatten – hinter seinem Bruder zurückgeblieben und hatte hinter dessen R ü cken den besonderen BLICK eingesetzt. Beide Male w a ren die Umrisse eines flimmernden Pferdekopfes in seiner ganzen quirligen Pracht vor ihm aufg e taucht, und plötzlich hatte Michael gewusst, was er da sah.
Das war die Seele seines Bruders.
Was sollte es denn sonst sein? Das Bild hatte mit Stephens körperlicher Erscheinung nichts zu tun, das war ganz sicher, dennoch bildete es mit seinem übr i gen Körper eine Einheit. Es pulsierte und vibrierte aus sich heraus wie Magma unter der Erdkruste; oder – Michael lächelte über den simplen Vergleich – wie Suppe im Topf kurz vor dem Aufkochen. Das Bild hatte tausend Farben, die durch ein inneres Licht e r strahlten, und worüber er am meisten staunte, war die Tatsache, dass es Stephens Gefühle widerspiegelte.
Michael entdeckte in den Farben seines Bruders eine wirbelnde Angst, gestreift von roten und schwarzen Gedanken. Als Stephen einmal über eine Baumwurzel stolperte und Michael ihn laut fluchen hörte, sah er aus der Seele ein kurzes Wirbeln von violetter Wut aufflackern und wieder verblassen.
Keine Frage – es war ein wunderschöner Anblick. Michael hätte sich das den ganzen Tag lang anscha u en können und nicht mehr zu den langweiligen altb e kannten Farben des Sommers umschalten wollen. Aber er musste den BLICK wieder ausschalten, sonst wäre er Gefahr gelaufen, in dem grau-roten Dämme r licht auf dem schmalen Pfad seine Trittsicherheit zu verlieren.
Wie dumm von ihm, dass er davon gesprochen hatte! Sonst wäre er der einzige Mensch auf der Welt gewesen, der darüber Bescheid wusste, und jetzt ha t te er einen Eid abgelegt, den Stephen unbedingt übe r prüfen wollte. Es gab keinen Ausweg. Es sei denn … Vielleicht konnte er ihn überreden, alles zu verge s sen, als wäre es ein Witz gewesen?
»Stephen … «
Stephen blieb stehen und drehte sich um, und sein strenger Blick ließ alle weiteren Worte in Michaels Kehle ersterben. Es gab kein Zurück. Jetzt nicht.
Michael lächelte seinen Bruder verlegen an und zuckte mit den Achseln. Irgendwas hinten in seinen Augen schmerzte.
»Was ist?«, sagte Stephen. »Gehen wir weiter?«
12
Als Sarah in die Auffahrt einbog, stand Mr Cle e ver an der Haustür und drückte gerade auf die Kli n gel. Er drehte sich um und strahlte, während sie a n hielt und ausstieg.
»Meine Liebe, was für ein perfektes Timing. G e rade wollte ich mich wieder auf den langen Rückweg machen.«
»Haben die Jungen die Klingel nicht gehört, Mr Cleever?« Sarah fummelte in ihrer Handtasche he r um und wusste, dass sie einen verwirrten Eindruck machte. Sie fand die Schlüssel und schloss auf. »Bi t te kommen Sie herein.«
»Vielen Dank, Miss McIntyre . Ich glaube nicht, dass Stephen und Michael zu Hause sind. Ich habe zweimal geklingelt.«
»Sie sollten aber hier sein. Michael geht es nicht so gut.« Sie ließ die Handtasche auf die Kommode fallen und rannte zur Treppe. »Michael? Stephen?«, rief sie hinauf, aber alles blieb still.
»Alle weg«, sagte Mr Cleever strahlend, und dann wie zur Begründung: »Jungs.«
»Ja.« Nun war Sarah beunruhigt und verärgert. Die Sache in Stanbridge war ganz gut gelaufen, und sie hatte sich auf das Heimkommen gefreut und war voller Zuversicht gewesen, dass sie ihren irregeleit e ten kleinen Bruder mit Stephens Hilfe wieder auf die Beine bringen würde.
Jetzt sah es so aus, als ob sich beide aus dem Staub gemacht hatten. Das war zu viel, das ertrug sie nicht.
»Möchten Sie
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