Drachenglut
bewegen. Ganz allmählich schlossen sich nach einer schier endlos langen Zeit seine Lider und er schlief ein …
… lange, tief und fest – aber mit einem wachs a men Auge, das das Licht von weit entfernten Orten nie ganz ausschließt.
Es ist dunkel ringsherum, die Dunkelheit einer großen Tiefe, aber die dicke Erdschicht erscheint ihm wie ein Fenster aus Glas oder Diamanten. Sein Blick durchdringt sie, und er weiß, was dahinter liegt, er kennt die schnellen Bewegungen der Wolken, das Zittern der kleinen grünen Dinge, die mit den rasend schnellen Jahreszeiten aufsteigen und niedersinken, das endlose Umherhuschen der Bewohner dieses lu f tigen Orts, während sie ihr Leben zu Ende leben und wieder zu Erde werden.
Langsam einatmen …
Tausend Leben, jedes ein funkelnder Edelstein, bewegen sich auf der Oberfläche, ihre Bewegungen fangen das Licht ein und brechen es in tausend ve r schiedene Farben.
Langsam ausatmen …
Michael in seinem Bett wirft den Arm über sein Gesicht.
Er nimmt unscharf einen Widerspruch wahr: Der Beobachter kann die Schönheit der Seelen nicht b e sitzen, obwohl er sie sieht; der Besitzer kann die Schönheit nicht sehen, obwohl sie ihm gehört.
Niemand kann diese Kluft zwischen Besitz und Sehnsucht überbrücken. Außer vielleicht den wen i gen Auserwählten.
Michael fühlt im Schlaf eine neue Kraft in sich aufsteigen – mit einem solchen Freudenblitz, dass ihm fast schwindlig wird. Dann ruft eine Stimme seinen Namen. Er verbirgt seine Freude – eifersüc h tig, schuldbewusst. Seine Wangen röten sich.
»Michael, der BLICK ist nicht die einzige Gabe.« Es ist eine hohe Stimme, ganz nah, und es geht um ein lang gehütetes Geheimnis.
Als Antwort brennen seine Augen begierig, aber er antwortet noch nicht.
»Es sind vier Gaben, Michael. Der BLICK ist nur die erste.« Die Stimme kommt näher und erfüllt ihn mit süßer Sehnsucht.
Als Antwort schlägt sein Herz schneller, seine Beine bewegen sich im Bett, aber er antwortet immer noch nicht.
»Du wirst Jahre brauchen, um die anderen Gaben zu erlernen, wenn du es allein versuchst. Aber du musst es dir nicht so schwer machen. Wir können dich schon jetzt in die Geheimnisse einweihen, wenn du sie erfahren willst.«
Die Stimme klingt selbstsicher.
Auf dem Bett zucken Finger.
»Möchtest du sie kennenlernen, Michael?«
Als Antwort bewegt sich sein Kopf, er öffnet die Augen, aber blicklos drehen sich die Augäpfel hin und her, auf und ab, schweifen suchend durch das Zimmer und den inneren Raum. Sein Mund öffnet sich weit: Seine Stimme versagt, aber er krächzt eine Antwort.
»Ja.«
Jetzt ist die Stimme noch näher.
Er fühlt einen Atem an seinem Ohr, er riecht etwas Metalli s ches, irgendeine starke Chemikalie … einen scharfen Geruch … Weit unten spürt er die Hitze in der Erde.
»Michael. Es gibt etwas, das du wissen musst. Dein Bruder ist dumm. Er hat die Kraft, aber nicht den Willen – er muss sich anstrengen, um sie einz u setzen. Aber du kannst es ihm leicht machen. Du warst zuerst da. Mach es ihm vor. Dann folgt er dir und bewundert dich, wie du es verdienst. Aber sag ihm noch nichts; die Kraft bleibt bei denen, die ein Geheimnis bewahren können. Sonst will vielleicht er der Anführer sein.«
Michael nickt und seine Lippen bewegen sich im Schlaf. Ja, das ist nur allzu wahrscheinlich. Aber jetzt weiß er ja Bescheid. Er wird vorsichtig sein.
»Michael. Komm zu mir. Lass mich dich berü h ren. Dann wirst du alle vier Gaben kennen und wi s sen, was du damit tun kannst.«
Michael strampelt sich in eine sitzende Position und schleudert die Decke vom Bett. Er sieht nichts. Obwohl es im Zimmer kühl ist, schwitzt er von einer fernen Hitze. Halb schlafend, halb wach wendet er den Kopf.
Da steht eine Gestalt.
Er steht auf und spürt Stein unter dem Teppich.
Er geht auf die Gestalt und die Offenbarung zu.
20
Stephen saß bei ausgeschaltetem Licht auf dem Fe n sterbrett, den Rücken an die Wand gedrückt, und sah hinaus in die Nacht.
Die Auffahrt und die Straße unten waren pec h schwarz; das gelbe Licht aus dem Gasthof Monkey and Marvel schimmerte über die Hecke und erhellte die Umrisse der Bäume an der Straße. Rechts, ve r steckt in der Dunkelheit, erhob sich der felsige Hügel des Wirrim. Die Wärme des Tages schwebte von der abkühlenden Erde nach oben.
Auf der Straße ertönte Gelächter, Männer liefen wie Schatten am Tor vorbei nach Hause. Das Geläc h ter verklang und wurde von der Nacht
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