DrachenHatz
angerufen. Sie weiß natürlich, dass ich umziehe und hat sich Sorgen gemacht, ob auch alles klappt.«
»Natürlich«, sagte Marga und deponierte einen dampfenden Topf mit Chili con Carne auf dem Tisch. »Langt bitte zu.« Dazu gab es Fladenbrot, das Bäcker Matulke erst seit Kurzem im Angebot hatte, und Bier. Herrlich! Wir tafelten bei offenem Fenster und unterhielten uns dabei ungezwungen über Belanglosigkeiten, bis Greta plötzlich ihren Löffel beiseite legte und an Marga und mich gewandt sagte: »Also, ich erzähle es euch besser gleich.«
Wir taten nicht so, als ob wir keine Ahnung hatten, was sie meinte.
»Du musst überhaupt nicht, wenn du nicht magst«, stellte Marga ruhig fest. Ich war da durchaus anderer Meinung. Ich brannte nämlich darauf, endlich mehr über Gretas geheimnisvolles Leben zu erfahren. Und ich hatte Glück.
»Doch«, sagte sie sehr bestimmt. »Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es besser ist, wenn alle Bescheid wissen. Sonst schleicht man immer wieder um den heißen Brei herum, und das ist nicht gut.«
»Wie du möchtest. Vielleicht ist es auch ganz angenehm, sich einmal alles von der Seele zu reden.« Ich bemühte mich zwar um einen neutralen Tonfall, aber so ganz gelang es mir offenbar nicht. Denn Thomas warf mir einen stirnrunzelnden Blick zu, und Marga verschluckte sich just in diesem Moment geradezu bühnenreif. Hoheitsvoll ignorierte ich beides und konzentrierte mich ganz auf Greta.
»Ich habe meinen Jungen getötet«, platzte sie unvermutet heraus. »Hauke.«
Draußen tschilpte ein Vogel. Es klang wie die Laut gewordene Lebenslust schlechthin.
»Oh«, entfuhr es mir schwach. Denn was sagt man zu einem solchen Geständnis? »Wie furchtbar?« Das war ja wohl mehr als unangebracht. »Weshalb denn?« Das verbot sich von selbst. »War es ein Unfall?« Sicher, so wird es gewesen sein. Ich probierte es also mit dieser Variante.
Doch Greta wandte ihr mittlerweile wachsbleiches Gesicht ab und fing an, mit den Tränen zu kämpfen. Vergebens. Augenblicklich beutelte mich mein schlechtes Gewissen, bis ich mir klarmachte, dass auch sie es so gewollt hatte, nicht nur ich.
»Nein, es war Mord«, quetschte sie schließlich mit brechender Stimme hervor.
»Greta, das ist nicht wahr!«, fiel Thomas ihr bestimmt ins Wort. »Es war ein Unfall. Du hast vielleicht fahrlässig oder leichtsinnig gehandelt, aber –«
Sie schüttelte energisch den Kopf. »Du verstehst das nicht, Thomas. Es sind zwei völlig verschiedene Dinge. Juristisch gesehen, ja, da hast du recht, war es wohl ein Unfall. Aber hier, in meinem Inneren«, sie klopfte sich brutal mit der geballten Faust auf den Brustkorb, »hier drinnen empfinde ich es als Mord. Und er war doch noch ein Kind«, setzte sie leise hinzu.
Eine ganze Weile schwiegen wir alle vier. Seltsam, was man in solchen Augenblicken zur Kenntnis nimmt: Der Himmel, der sich nach so einem Geständnis doch eigentlich verfinstern sollte, tat genau das Gegenteil, weil der Wind sämtliche Wolken weiter gen Osten blies, sodass die Sonne jetzt völlig freie Bahn hatte.
»Und wie …?«, unterbrach ich schließlich zaghaft die Stille. Denn wenn wir nun schon einmal beim Thema waren, sollten wir auch noch den Rest hören, fand ich. Außerdem hatte ich immer noch nicht den leisesten Hauch einer Ahnung, weshalb sich Greta auf der Flucht befand, was immer das heißen mochte.
Jetzt stand sie auf, trat ans Fenster und blickte hinaus, sodass wir auf ihre schmale, versteifte Rückenansicht starrten. Wir warteten. »Mit einem Drachen«, flüsterte sie unvermittelt, »einem Lenkdrachen.«
Ich kannte die Dinger natürlich. Die kennt jeder, der hin und wieder auf dem Deich spazieren geht. Die durchschneiden die Luft wie eine Rasierklinge und produzieren dabei ein enervierendes Sirren, das unangenehm aggressiv klingt. Nicht nur deshalb ist diese Art von Spielzeug, die Könner wie Nichtkönner mit Wonne heruntersausen lassen, als stürze sich ein Habicht auf eine Maus, lediglich in bestimmten Deichabschnitten erlaubt. Woran sich allerdings fast niemand hält.
Und hier offensichtlich mit schrecklichen Folgen, wenn ich Gretas Worte richtig interpretierte. Trotzdem schubste ich sie erneut behutsam an, als sie nicht weitersprach: »Wie ist es genau passiert?«
»Hauke hatte sich schon lange so einen Drachen gewünscht.« Ihre Stimme klang, als stünde sie gar nicht mehr in Margas gemütlichem Wohnzimmer, sondern sei in Gedanken ganz weit weg. »Seit er sechs war, um genau zu
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