DrachenHatz
warf Thomas einen Blick zu. Er nickte. Greta hatte damals offenbar einen Nervenzusammenbruch erlitten. Hätte ich ebenfalls, muss ich gestehen. Die arme Frau. Kein Wunder, dass sie heute immer noch aussah wie der leibhaftige Tod, wenn sie über diesen Tag sprechen musste.
»Er war doch mein Junge. Mein Ein und Alles. Ich habe ihn so geliebt!« Schluchzend presste Greta das Taschentuch gegen Nase und Mund. Ich schielte rat- und hilflos zu Marga hinüber. Doch ihr ging es ähnlich. Sie war angesichts dieser Tragödie ganz bleich geworden und saß da wie erstarrt. Lediglich ihre Hände arbeiteten und kneteten irgendetwas, was nicht vorhanden war.
»Die Polizei und die Richterin haben auf einen Unfall erkannt, Greta«, mischte sich Thomas, dem Margas und mein Zustand nicht entgangen war, sanft und beschwörend zugleich ein. »Vergiss das nicht. Dich trifft keine Schuld. Es war ein Unfall. Das musst du dir immer wieder sagen!«
Greta schüttelte den Kopf. »Ich hätte aufpassen müssen. Es war mein Fehler, meiner ganz allein. Das wird Moni mir nie verzeihen.«
Moni? Wer war denn Moni, und welche Rolle spielte sie in diesem Drama?
»Sie ist … war Haukes leibliche Mutter«, erklärte Greta müde, als hätte ich meine Frage laut gestellt. »Ich nahm ihn zu mir, als sie verunglückte. Da war er eineinhalb und hatte so süße Locken. Mein Gott, war er ein herziges Kerlchen damals. Ich habe mich sofort in den Kleinen verliebt.« Ihre Stimme verlor sich, und ich traute mich nicht, weiter nachzubohren. Vielleicht hatte ich auch einfach genug und musste das Ganze erst einmal selbst verdauen.
Neben mir erwachte Marga aus ihrer Erstarrung. »Möchtest du noch einen Tee, Greta? Oder soll ich dir vielleicht rasch einen Kaffee kochen? Es macht überhaupt keine Mühe. Ich hätte auch einen Espresso da oder etwas Stärkeres. Du musst nur sagen, was du möchtest.« Marga war ganz schön von der Rolle. Zu einer derartigen Angebotsvielfalt neigte sie sonst keineswegs.
»Ein Kaffee wäre schön«, sagte Greta, die sich wieder ein wenig gefasst hatte, dankbar.
Sofort sprang Marga auf und fing geschäftig an zu werkeln.
»Komm, setz dich doch wieder«, forderte Thomas Greta auf, die tatsächlich gehorsam Platz nahm.
Mein Thomas war schon ein feiner Kerl. Nicht viele Männer würden sich so rührend um eine Frau kümmern, von der sie nichts wollten. Ich bedachte ihn mit einem liebevollen Blick; langsam entspannte sich die Situation wieder etwas.
Greta gelang sogar ein zaghaftes Lächeln, als Marga ihr den Kaffee hinstellte, und mir fiel endlich auf, dass ich immer noch nicht wusste, weshalb sich diese Frau auf der Flucht befand. Es hatte bestimmt mit Haukes Tod zu tun, so viel glaubte ich mittlerweile zu wissen, aber das Wie und Warum lag immer noch im Dunkeln.
Ich räusperte mich behutsam, bevor ich leise bemerkte: »Du bist also zu uns nach Bokau gezogen, um das alles hinter dir zu lassen und einen Neuanfang zu wagen?« Du meine Güte, was zirkelt und schraubt man doch vor sich hin, wenn man sich unwohl fühlt.
Greta zuckte gleichgültig mit den Schultern. »So kann man es wohl nennen, denke ich. Innerlich wird das natürlich nicht klappen, denn wo ich bin, sind auch meine Schuld und mein schlechtes Gewissen.« Sie stieß ein bitteres Lachen aus. »Darauf kann sich der Kerl verlassen. Dafür muss er nicht noch anrufen und mich immer wieder daran erinnern.«
Welcher Kerl? Welche Anrufe? Ich stellte schwungvoll meine Kaffeetasse ab, was Thomas nicht entging.
»Greta bekommt seit Monaten Drohanrufe wegen dieser … hrhm … Sache«, erklärte er mit nur mühsam unterdrückter Wut in der Stimme. »Der Scheißkerl ruft zu jeder Tages- und Nachtzeit an und bedroht sie. Deshalb ist sie hergezogen. Bokau ist klein« – stimmt, bummelige 300 Einwohner, ein Bäcker, ein Gasthof – »und damit sehr übersichtlich. Hier lernt sie die Menschen kennen und wird sich sicher fühlen.«
Ich war mittlerweile ganz Ohr und spürte, wie eine Woge detektivischen Adrenalins durch meine Adern zu pulsen begann. Ein neuer Fall? »Womit droht der Unbekannte denn?«, erkundigte ich mich sachlich bei Greta.
»Mir etwas anzutun, wenn ich es nicht sage.«
»Und was sollst du sagen? Dass du den Unfall verschuldet hast?« Ich ignorierte Margas und Thomas’ entsetzte Blicke.
»Ja«, nickte sie einfach, »er will mir etwas antun, wenn ich auch weiterhin schweige.«
»So ein Schweinekerl!«, entfuhr es mir reichlich unprofessionell. »Sollst du dich
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