Drachenkaiser
wollen nur sichergehen, dass wir es rechtzeitig bemerken, wenn uns Gefahr droht. Früher, als ihr Altvorderen euch einig wart und die Gebiete aufgeteilt hattet, herrschte Ordnung. Aber derzeit fürchten wir, dass manche Menschen eurer Kontrolle entgleiten und auf eigene Faust handeln. Der russische Zar zum Beispiel. Er ist verzweifelt und vom Verfolgungswahn gebeutelt genug, um zur Ablenkung von inneren Unruhen einen Krieg mit China anzufangen. Eine unberechenbare Langnase.« Er deutete eine Verbeugung an. »Ich versichere dir, dass man unserem Bündnis trauen kann.«
»Dann möchte ich einen Beweis«, sagte Vouivre sofort.
Nie-Lung lachte wieder und blickte ihn wissend an. »Es ist nicht schwer, deinen Wunsch zu erahnen: Du wirst den Kopf der roten Drachin erhalten. Wenn er zu deinen Füßen liegt, wirst du das Abkommen mit uns eingehen?«
»Wenn mir gefällt, was ich auf der Karte sehe, ja«, erwiderte er. Perfekt. Wenn sie tot ist, kann ich Europa in aller Ruhe zu einer Festung ausbauen. Und falls Ddraig den Anschlag des Hirschgeweihs überleben sollte, wird sie ihren Hass auf die Chinesen anstatt auf mich richten. Er musste ein selbstzufriedenes Lachen unterdrücken. »Ist das annehmbar?«
»Da ich weiß, wie großzügig wir in der Zuteilung der Territorien sind, hege ich keinerlei Bedenken, dass wir uns schon bald Verbündete nennen werden.« Nie-Lung breitete die filigranen Flügel aus. »Wo kann ich dich finden?«
»Schicke einen deiner Chinesen nach Bitche, wenn es so weit ist. Er soll in der Festung einen Brief mit dem Treffpunkt abgeben, adressiert an Marschall Frank Lacastre.« Vouivre betrachtete den Körperbau des Drachen und musste ihm recht geben. Es gab durchaus Übereinstimmungen zwischen ihnen.
»So wird es geschehen.« Nie-Lung reckte sich. »Nochmals, Altvorderer: Wir haben keinerlei Interesse an Europa. Vor Kurzem hatten wir es versucht, aber es lief nicht so, wie wir dachten. Seitdem bleiben wir im Rahmen unserer Grenzen.«
Vouivre konnte sich beim besten Willen nicht erinnern, wenn man von Dschingis Khan oder Attila einmal absah. Und auch nach den Maßstäben von Drachen lagen deren Kriegszüge einige Zeit zurück. »In Russland, nehme ich an? Es drang jedenfalls nichts bis zu mir.«
Nie-Lung lachte lauthals. »Du stehst daneben.« Er wies mit dem Schwanz auf die Pagode. »Chinoiserie, du erinnerst dich? Seide, Papiertapeten, Möbel, Lacke, Porzellan, alles wollten die Europäer von uns. Wir haben die Menschen mit unserer Kunst, mit Gärten und Architektur von unserem Land begeistert. Wir wollten sie auf unser Erscheinen vorbereiten, und es lief sehr gut.«
Bei Leviathan! Sie sind clever. Vouivre entsann sich genau an diese Modeerscheinung, eine Phase nach der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts und den Jahren danach. Voltaire hatte von China geschwärmt, die Briten hatten sich ihre Häuser mit asiatischen Möbeln zugestellt, und die Deutschen hatten sogar in ihrer Bewunderung ein chinesisches Dorf nachgebaut. Viel cleverer, als wir dachten! Und ich Idiot freute mich noch, weil ich mit dem Import der Waren viel Geld verdiente! Ich habe ihnen geholfen.
»Man sah beinahe überall unsere Abbilder. Sogar auf Papiertapeten haben sie uns gemalt.« Nie-Lung amüsierte sich über die Betroffenheit des Altvorderen. »Oh, ich habe dir das Auge geöffnet, nicht wahr? Ein Angriff muss nicht immer mit Armeen erfolgen. Es gibt andere Mittel, um zu erobern.« Er erzeugte mit der Zunge ein peitschenknallartiges Geräusch. »Aber leider, leider verhinderte die Französische Revolution, dass wir auf der Welle der Begeisterung Einzug halten durften.«
Schlagartig wurde sich Vouivre bewusst, wie knapp sie an einer Katastrophe vorbeigeschlittert waren. »Wir haben die Revolution nur deswegen geschehen lassen«, log er. »Die Menschen haben die Chinoiserie in den Wirren vergessen.«
Nie-Lung schwang sich in die Lüfte. »Wie schön, dass wir bald Verbündete sind und alle Fragen der Macht geregelt sein werden«, rief er und flog nach Westen. »Du wirst von meinem Boten hören.« Der rauschende Flügelschlag verebbte.
Ich brauche mehr Informationen über asiatische Drachen. Man muss seine Feinde kennen, um sie zu besiegen. Vouivre nahm die Karte aus der Pagode, stieß sich ab und flog ebenfalls los.
Er hatte schon lange Zeit nichts mehr von einem seiner englischen Spione gehört, was eine gewisse Nervosität in ihm auslöste. Und der Gedanke daran, dass die Altvorderen durch die Möbel und Seide beinahe
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