Drachenkaiser
nichts darauf gegeben. Morde geschahen immer wieder unter den Menschen, auch unter denen, die sein Eigentum verwalteten. Aber einen Tag zuvor hatte er an der Kanalküste einen Chinesen auf die gleiche Art getötet, und so vermutete er in dem Mord eine Retourkutsche und ein Zeichen an ihn.
Wo steckst du? Der Altvordere ging etwas tiefer und zog über das barocke Jagdschloss hinweg, das Herzog Choiseul zu Zeiten von Louis dem Fünfzehnten hatte errichten lassen. Vouivre hatte es nach einem Brand vor knapp einhundert Jahren wieder aufbauen lassen und einen Verwalter eingesetzt, der dachte, einem reichen Nachfahren des Herzogs zu dienen. Während Vouivre dafür sorgen ließ, dass niemand das Schloss betrat, erlaubte er den Anwohnern den Spaziergang in der immensen Parkanlage.
Um diese Zeit lag sie verlassen da. Der frisch gefallene Schnee war jungfräulich unberührt und glitzerte.
Keine Spuren. Er flog über die Pagode hinweg, als ihn ein Schneeball mitten aufs Karfunkelauge traf. Er fauchte wütend auf und züngelte, warf sich herum und kehrte zu dem imposanten Bauwerk zurück, das sich mit sieben Stockwerken etliche Meter in die Höhe reckte. Es hatte bei den Jagden des Herzogs als Aussichtsplattform gedient.
»Komm heraus!«, rief Vouivre erbost und landete. Flirrende Wolken aus losem Schnee stoben auf und wirbelten nach allen Seiten davon. »Damit ich dir Manieren beibringen kann!«
Aus dem vierten Stock schob sich der Kopf eines asiatischen Drachen, Hals und Leib waren goldgeschuppt. Die Hörner erinnerten ihn an einen Hirsch, die Züge ähnelten seinen ein wenig. Ein leises Lachen erklang. »Du hast Schnee auf der Schnauze, Altvorderer.«
»Und du gleich meine Krallen im Leib!« Vouivre schüttelte das Weiß ab. »Wie ist dein Name, und was willst du?«
»Nie-Lung heiße ich.« Der Drache schob sich hervor, wand sich um die Pagoden herum nach unten und kam vor ihm zum Stehen. »Ein ungewöhnlich zarter Körperbau für einen Altvorderen. Wir könnten verwandt sein, wenn du nicht nur ein Auge hättest.«
»Der Westen und der Osten sind nicht miteinander verwandt.« Vouivre schnaubte. Aus dem Mund des Chinesen klang Altvorderer nach einer Schmähung. »Euer Blut hat eine andere Farbe als unseres. Ich habe keine Ahnung, aus was ihr hervorgekrochen seid.«
Nie-Lung schaute zur Pagode. »Du hast meinen guten Yan-Su Po getötet«, sagte er bedauernd. »Er war einer der besten Artisten im Zirkus. Wegen deiner sinnlosen Tat müssen sie das Programm umstellen.«
»Sie werden einen Besseren finden.«
Nie-Lung fuhr mit der Kralle über das Dach des unteren Stockwerks und ritzte ein chinesisches Symbol hinein. »Ich vergebe dir, was du getan hast, und warne dich: Kanada gehört uns.«
»Kanada gehörte Grendelson, so weit meine Spione mich informierten, und da Grendelson tot ist, steht es offen«, gab Vouivre säuerlich zurück. Wie kann es diese Missgeburt wagen, mir Vorschriften machen zu wollen?
»Eine ähnliche Unterredung habe ich schon einmal geführt, vor etwa zwei Jahren. Mit Grendelson. Damals riet ich ihm, Amerika nicht in seine Eroberungspläne einzubeziehen. Inzwischen haben wir die Zeit genutzt und weite Teile des nördlichen Nachbarn gesichert.« Nie-Lung strich über die Pagodenwand. »Es reden zwar sehr viele Kanadier Französisch, ich weiß, aber das ist kein Grund für deinen Anspruch.«
Vouivre hatte schon immer geahnt, dass sich in Amerika mehr tat, als sie in der Alten Welt nachvollziehen konnten. Es war ein Fehler, sich nicht weiter darum gekümmert zu haben. »Wer ist wir.«
»Das Pendant zu dem, was ihr Altvordere nennt«, antwortete Nie-Lung gelassen und betonte es dennoch so, dass sofort klar wurde, wer über wem stand. »Ich mache dir das Angebot, dich gegen Ddraig zu unterstützen und dir die alleinige Macht in Europa zu sichern. Dafür wirst du jegliche Aktionen in Kanada einstellen.« Er zeigte auf die Pagode. »Ich habe eine Karte mitgebracht, auf der eingezeichnet ist, was du gefahrlos zu deinem Eigen machen darfst. Von den rot schraffierten Ländern lässt du die Krallen, Altvorderer.«
Vouivre mochte die Art nicht, mit der das Hirschgeweih zu ihm sprach. Er schnaufte scheinbar gelangweilt, um Nie-Lung seine Verstimmung spüren zu lassen. »Was sollen die Spione in Europa? Ihr bereitet einen Angriff vor, und ich soll glauben, dass man mit euch Bündnisse eingehen kann?«
Nie-Lung klimperte mit den Wimpern und stieß schweflige Wölkchen aus. »Wir sehen das Durcheinander und
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