Drachenkaiser
passte. »Sie allein, nicht Ihre Familie.«
Ein Druck breitete sich in Ealwhinas Kopf aus, der ein Brennen in ihrem Gehirn verursachte. Sie glaubte, ihr Verstand schwimme in einem Backofen, der unentwegt schrumpfte, während gleichzeitig ihre Gedanken und Erinnerungen nach außen gepresst wurden. Das reicht! »Das reicht!«
»Sie haben Morde begangen, Snickelway«, sprach die Russin angestrengt mit kindlicher Stimme und blieb mit ihr verbunden. »Vier…und…achtzig Morde. Männer, Frauen und sogar … Kinder. Weil Sie Gefallen an den Schreien fanden.« Sie legte den kleinen Finger einige Zentimeter weiter nach rechts, als könne sie durch den Schädel die Gedanken empfangen. »Sie waren einmal eine angesehene Bürgerin in York…«
»Das reicht!« Ealwhina riss sich mit aller Kraft los. Die Soldaten wurden in die Sitze geschleudert, ergriffen sie jedoch gleich wieder.
Keuchend sank Sigorskaja in die Polster und starrte sie an. »Sie … sind ein echtes Monstrum«, keuchte sie entsetzt und fasste sich an die Schläfe. »Solche Bilder habe ich niemals gesehen, und ich bin vieles gewohnt.« Sie neigte den Kopf. »Kinder! Sie haben sie ausgebeint wie … Lämmer!«
»Ich bin in den Shambles groß geworden, ehe ich einen Lord heiratete«, erwiderte sie kalt. »Ich verstehe mich darauf.«
Sigorskaja sagte etwas zu einem Soldaten, der ihr daraufhin einen Flachmann reichte. Sie nahm drei kräftige Schlucke. »Gegen Sie bin ich harmlos«, raunte sie und wischte sich den Alkohol von den Lippen. Sie schüttelte sich, aber nicht wegen des Wodkas. »Und Sie besitzen die Abgebrühtheit, mir zu sagen, dass Sie jeden Mord bedauern?«
»Jeden«, antwortete Ealwhina und bekräftigte es mit einem Nicken. »Ich hatte keine Wahl. Der Zwang zu töten kam über mich. Zu verschiedenen Tages- und Nachtzeiten, und ich habe keinen Unterschied zwischen Arm und Reich, Jung und Alt gemacht.« Sie schauderte wohlig bei den Erinnerungen an früher. »Todesschreie klingen wunderschön, denn sie sind die letzten Laute eines Menschen. Etwas Einmaliges.« Ein langes Seufzen entwich ihr. »Ich kam ins Sanatorium, wo man mich behandelte. Eine Lady wird nicht hingerichtet.« Sie beugte sich nach vorn, was die Soldaten erst nach einem Wink ihres Obersts zuließen, und strich die braunen Locken etwas zur Seite. »Die Narben stammen von der Operation. Doktor Withman war der Meinung, dass man mir das zwanghafte Töten aus dem Verstand treiben kann. Er und sein Assistent taten etwas, an das ich mich nicht mehr erinnern kann. Aber es wirkte.«
Sigorskaja atmete tief ein. Sie beruhigte sich langsam wieder. »Den Fluch hat Ihnen jemand aus einer Opferfamilie angehängt, schätze ich.«
»Nein, das war Withman. Er besaß vielerlei Talente und starb viel zu früh.« »Durch Sie!«
»Nein«, wehrte Ealwhina ab. »Ein Unfall, wie ich hörte. Ich befand mich an einem anderen Ort, als er ums Leben kam.« Wie gut, dass sie mich nicht mehr lesen kann.
Der Zug fuhr langsamer; sie hatten nicht bemerkt, dass sie in den Bahnhof von Amsterdam einfuhren.
Gerade passend. Die Lady lächelte wieder. »Ich bin geheilt. Ehrlich.«
Sigorskaja erhob sich und erteilte Befehle auf Russisch. Gepäck wurde genommen, militärisch effizient wurde der Ausstieg vorbereitet. »Ob Sie geheilt sind oder nicht, das ist mir gleichgültig«, erwiderte sie. »Sie führen mich dorthin, wo ich die Mörder meiner Schwester und das Artefakt finde.« Sie streifte die Handschuhe über. »Wohin sollen diese Männer namens Vlad und Piotr gegangen sein?«
»Suchen wir zuerst die Herengracht.« Ealwhina wurde von den Soldaten ruppig auf die Beine gestellt.
Sigorskaja betrachtete sie. »Und dann?«
Sie grinste. »Haben Sie das nicht in meinen Gedanken lesen können?« Sie konnte der Versuchung nicht widerstehen. »Sie sind wohl doch nicht so gut.«
»Oh, ich habe vieles in Ihrem Kopf gesehen. Sogar die Gesichter der Mörder meiner Schwester, denke ich. Aber Amsterdam kam in Ihrer Erinnerung nicht vor. Auch nicht die Herengracht.« Das Medium deutete auf die Zugtür. »Entweder haben Sie es vor mir verbergen können, oder Sie haben mich angelogen.«
»Denken Sie, dass ich in einer solchen Situation lügen kann?«
»Sie haben über achtzig Menschen getötet. Sie können mehr als nur lügen.« Sigorskaja ging voraus und sprang aus dem stehenden Zug, vor dem die ersten Soldaten warteten. Auch wenn sie Kleider trugen, die eine unterschiedliche soziale und berufliche Herkunft vortäuschen
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