Drachenkaiser
Lanze mit einer Explosivspitze auf den Stab schraubten. Sie wollen mich an Ort und Stelle hinrichten.
Von draußen erklang plötzlich lautes Geschrei. Schüsse krachten, und das Rufen wurde lauter, panischer.
Redelmaier gab den Georgswächtern Anweisung, das Zelt zu verteidigen, und wies die Männer mit der Harpune an, den Drachen zu töten. »Und macht schnell!«
Zu dritt nahmen sie den Stab und holten Schwung.
Wu Li, halte sie auf, bis ich so weit bin. Nie-Lung breitete die Schwingen aus und schleuderte das aufgesteckte, lose Dach seines Käfigs davon.
»Wie Ihr befehlt, Läozi.« Der Illusionist zog die Hände hervor und schlug sie zusammen. Das Klatschen war so laut, tief und dröhnend wie ein Kanonenschuss. Er streckte sie nach vorn und richtete den nachschwingenden Schall gegen die Männer und Frauen des Officiums, die ächzend auf die Knie sanken und sich die Ohren zuhalten mussten. Bei einigen lief Blut zwischen den Fingern den Hals hinab.
Seht meine Macht! Nie-Lung entfaltete die Flügel, so weit es ging, sprengte das Zelt auseinander und blies den Stoff davon.
Wu Li spreizte die Arme ab, drückte sie nach hinten und neigte den Oberkörper nach vorne. Aus seinem Mund drang Seifenblase um Seifenblase. Doch sie hatten ihre Sanftheit verloren und bewegten sich schnell und genau wie Geschosse, trafen die Gegner gegen Kopf und Brust. Klirrend zerschellten sie und spickten die Haut sowie das Fleisch mit dünnen Splittern.
Der Drache sah, dass seine chinesischen Gefolgsleute auf dem Hof gegen eine Schar Soldaten kämpften, welche die Farben des Kaisers trugen. Zu ärgerlich. Noch ein paar Tage mehr, und ich wäre in aller Ruhe nach Amsterdam gereist, anstatt unter diesen Umständen aufbrechen zu müssen. Er stieß einen lauten Schrei aus, der die Menschen und Tiere zusammensacken ließ. Die Furcht, die er verströmte, konnte keine Kreatur ertragen – außer Wu Li, der zu seinen Füßen stand und sich aufrichtete.
Das hast du gut gemacht, mein treuer Wu Li. Nie-Lung neigte das Haupt. Steige auf. Du kommst mit mir. Ich brauche dich, um die Mission unseres Herrn zu Ende zu bringen.
»Ich fühle mich geehrt, Läozi.« Er schwang sich auf den schuppengepanzerten Kopf und hielt sich an dem Gehörn fest. »Ich danke Euch!«
Nie-Lung sandte vernichtende smaragdfarbene Flammenstrahlen gegen Freund und Feind gleichermaßen und steckte die Zelte, die Wagen und die Tiere des Zirkus in Brand. Die Lohen stiegen meterhoch in die Dunkelheit, Asche trudelte umher. Geschmolzenes Metall troff auf die verbrannte Erde. Eine kleine Schar Kinder, Frauen und Männer, die bei aller Gefahr neugierig ausgeharrt hatten, rannten um ihr Leben. Nichts wird zurückgelassen. So lautete die Order seines Gebieters. Das grüne Feuer hüllte sie ein und verwandelte sie innerhalb von Lidschlägen in graue Flöckchen.
Mit schnellen Schwingenschlägen stieg er in den Nachthimmel auf und flog nach Osten davon. Die dummen Menschen sollten glauben, dass er in die Heimat zurückkehrte.
4. Januar 1927, Amsterdam, Provinz Nord-Holland, Königreich Holland
Ruckelnd fuhr der Zug an. Ein lautes Pfeifen schrillte, und Wasserdampfschwaden schössen vor dem Fenster hoch. Die Sicht verschwand für einige Sekunden, ehe man die flache Umgebung wieder zu sehen bekam.
Ealwhina mochte das Reisen mit dem Zug nicht. Sie verlor dabei so viel Zeit. Und Zeit bedeutete außerhalb von York für sie etwas Besonderes, was das russische Medium und die Mitglieder der zaristischen Armee nicht wissen konnten: ihr geheimes Handicap.
Das Großraumabteil gehörte ihnen allein.
Ihr Blick streifte über die jungen Männergesichter um sie herum, in denen Schnurr-, Schnauz- und Vollbarte zu bewundern waren. Oberst Sigorskaja und deren auf zivil getrimmte Truppe fielen durch ihre militärische Steifheit sofort auf und vereitelten so jeden Versuch, in der einfachen Kleidung bürgerlich-harmlos zu wirken. Das unbehagliche und vor allem bedrohliche Schweigen hatte jeden Reisenden aus dem Waggon vertrieben. Und ich sitze mittendrin.
»Das mit Ihrer Schwester tut mir leid«, sagte Ealwhina, weil sie die Stille nicht länger ertragen mochte. »Sie hatte den Tod nicht verdient.«
Verwundert sah die Russin von ihrem Büchlein auf, in das sie handschriftliche Aufzeichnungen machte. »Womit habe ich denn Ihre Anteilnahme verdient, nachdem ich Sie entführt habe?«
»Ich bedauere jeden Mord.«
»Ach, tun Sie das?« Sie klappte die Seiten zu. »Das klingt ein wenig so, als
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