Drachenkinder
Familiending.«
Das Telefon im Wohnzimmer klingelte. Hilfsbereit sprang Vanessa auf und brachte es mir. »Ist sowieso für dich, Mama.«
Eine aufgeregte afghanische Stimme schlug mir entgegen. Mühsam versuchte ich, etwas zu verstehen. »Hallo? Wer ist da?«
»Osman!«
»Mensch, Osman, ich versteh dich verdammt schlecht! Sprich langsam und deutlich! Wo ist Dadgul, dass er übersetzen kann?!«
»Dadgul gereft!«, war das Einzige, was ich von dem aufgeregten Wortschwall verstand. »Du meinst, Dadgul genommen? Was soll das heißen?«
Osman, Dadguls Freund, plärrte dermaßen ins Telefon, dass ich schon Angst hatte, Allah hätte Dadgul für immer zu sich genommen.
»Entführt? Du meinst, sie haben Dadgul entführt?« Ich ahnte Schreckliches. Aus dem völlig hysterischen Osman war nichts mehr rauszubekommen. Ich versuchte es auf Dadguls Handy, aber das war abgestellt.
Anwar wusste von nichts – ich hörte die Baumwollpresse im Hintergrund. Er schrie nur ins Telefon, dass Dadgul in Kabul sei, und zwar mit Osman.
Wieder versuchte ich es bei Osman, aber auch sein Handy war inzwischen abgestellt.
Meine dritte Wahl, Cousin Khaista Khan, schrie mit überkieksender Stimme ins Telefon, ohne dass ich ein vernünftiges Wort aus ihm herausbrachte, anschließend war die Leitung tot.
»Verdammt!«, seufzte ich verzweifelt. »Kann in diesem Land nicht EINMAL was funktionieren!«
»Iss erst mal deinen Kuchen. Die regen sich doch oft mal auf.«
»Meinst du, darauf habe ich jetzt noch Appetit? Was, wenn Dadgul wirklich entführt wurde?«, fauchte ich zurück, was Micki wirklich nicht verdient hatte. Sofort regte sich wieder mein Beschützerinstinkt.
Am nächsten Morgen hatte ich wieder Dadguls Cousin Khaista Khan an der Strippe, diesmal dolmetschte Gholam, der Junge, der in Österreich operiert worden war, und den ich mit Diana verheiratet hatte. Theoretisch wäre er eine ideale Vertretung für Dadgul gewesen: Er war schlau, gebildet und mir mehr als nur einen Gefallen schuldig, nach allem, was ich für ihn getan hatte. Aber er kümmerte sich einen Dreck um das Allgemeinwohl. Ihm ging es nur um den eigenen Vorteil. Er war bei einem Ingenieurbüro in Kunduz beschäftigt und pflegte zu allen, auch zu Dadgul gute Beziehungen. Er hängte sein Fähnchen nach dem Wind. Schon dass er sich jetzt zum Übersetzen herabließ, grenzte fast an ein Wunder.
»Dadgul ist vorgestern mit Osman nach Kabul gefahren«, berichtete er auf Deutsch. »In Pul-i–kumri wurde sein Wagen von bewaffneten Straßenräubern angehalten. Sie haben Dadgul gezwungen auszusteigen, Osman durfte weiterfahren. Später hat Osman dann eine Nachricht von Dadgul bekommen: Vor seinen Augen sind drei Männer erschossen worden. Für ihn wollen die Räuber innerhalb der nächsten vierundzwanzig Stunden Lösegeld, oder er wird auch sterben. Die scherzen nicht, die machen ernst.«
»Ich stöhnte laut auf und spürte, wie mir die Knie weich wurden. Micki und Vanessa starrten mich entsetzt an. Alle Farbe war aus meinem Gesicht gewichen.
»Was soll ich Osman jetzt übersetzen?«, fragte er förmlich. »Kann er mit dem Lösegeld rechnen?«
»Wie viel?«, ächzte ich mit letzter Kraft.
»Fünfzigtausend Dollar.«
Der Hörer rutschte mir aus der zitternden Hand. FÜNFZIG tausend Dollar!
Micki fing ihn auf und hielt ihn mir ans Ohr. »Bleib ruhig, Sybille. Du hast dir dieses Land ausgesucht. Da passieren solche Sachen.«
»Mein Projekt!«, stöhnte ich, und mein Herz raste wie verrückt. »Unser Projekt!« Ich dachte voller Sorgen an Dadgul. Aller Ärger war vergessen, ich musste Dadgul jetzt unbedingt helfen.
Vanessa hielt meine Hand. »Mama! Versuch jetzt einfach nur klar zu denken!«
Aus dem Hörer kam Gholams fragende Stimme. »Hallo, Misses Schnehage? Sind Sie noch dran?«
Nein. War ich nicht. In meinem Kopf rauschte es.
»Rufen Sie in einer Stunde wieder an, meine Frau muss nachdenken!«
Micki unterbrach die Verbindung und stützte die Ellbogen auf den Tisch. Besorgt musterte er mich, denn mir standen Tränen in den Augen. »Sybille, du musst jetzt stark sein. Dadgul ist allgemein als reicher Retter mit einer reichen Deutschen im Hintergrund bekannt. Da war es nur eine Frage der Zeit, wann er entführt wird.«
»O Gott, wen kann ich denn jetzt auf die Schnelle um fünfzigtausend Dollar anhauen?« Ich presste die Fäuste gegen die Schläfen. »Die Bundeswehr hält sich aus solchen Sachen raus! Die setzen sich nicht in die Nesseln, wenn es um Entführungen und
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