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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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ersten Mal seit langer Zeit sah ich ihn wieder grinsen.
    In dieser Nacht konnte ich vor lauter Aufregung nicht schlafen. Von der nahe gelegenen Baumwollpresse hörte ich das eintönige Gestampfe der Arbeiter, die wegen der Hitze nur nachts arbeiteten. Im langärmeligen Schlafanzug schlüpfte ich hinaus und kletterte auf den Dachboden des Gebäudes, wo die Baumwollkerne ausgebreitet auf dem Holzdielenboden lagen. Anwar und sein Freund Agha schaufelten im Schweiße ihres Angesichts Kerne in die Maschinenöffnung, aus denen schließlich Öl zum Kochen oder für die Seifenherstellung gepresst wurde.
    »Hallo!«, rief ich, während ich mich vollends durch die Luke zwängte. »Nicht erschrecken, ich bin’s!«
    »Oh! Mokhteram khanom Schnehagei.« Agha verbeugte sich tief und errötete. Na ja, so ’ne Sybille im Schlafrock sichteten sie auch nicht alle Tage.
    »Ach, ihr Lieben! Lasst doch den Quatsch mit der ehrwürdigen Mutter! Ich kann nicht schlafen und langweile mich!«
    Anwar freute sich aufrichtig mich zu sehen. Auf Dari berichtete er Agha von meinem mutigen nächtlichen Einsatz. Der wurde immer ehrfürchtiger.
    »Sag mal, Anwar, schläfst du etwa hier?« Ich betrachtete die durchgelegene Plastikmatratze in der Ecke, auf der ich einige persönliche Gegenstände wie einen Plastikbecher, zwei T-Shirts und einen Handtuchfetzen bemerkte.
    »Ja.« Anwar errötete. »Wusstest du das nicht?«
    »Nein! Ich dachte, du wohnst noch bei deinen Eltern?«
    »Nein.« Anwar druckste ein bisschen herum. »Zu Hause sind wir vierzehn Personen in drei winzigen fensterlosen Zimmern. Da hab ich Dadgul gefragt, ob ich hier oben neben der Ölpresse schlafen kann. Dafür passe ich auf seine Baumwollkerne auf.«
    »Aber, das ist ja …« Hier oben würde ich noch nicht mal einen Hund hausen lassen! Ohne Wasser, geschweige denn eine Toilette! In sengender Hitze und diesem Dauermuff. Der Baumwollstaub war auch nicht gerade gesund für die Lunge!
    »Das geht schon.« Anwar strahlte mich an.
    »Und das Geld, das du hier verdienst? Kannst du dir davon kein Zimmer leisten?«
    »Nein. Das gebe ich alles meiner Mutter. Seit ich neun bin, arbeite ich!«
    Mein kleiner Anwar. Deswegen war er auch Analphabet gewesen. Wie hätte er bei der Belastung auch noch zur Schule gehen sollen?
    »Fühl dich ganz wie zu Hause, Ade Sheni Hagei! « Anwar machte eine weit ausholende Geste, als wollte er seine Polsterlandschaft anpreisen.
    Ich ließ mich in die Kerne sinken wie Aschenputtel in ihre Linsen.
    »Hier! Kennt ihr das? Wir nennen das Schnee-Engel!«
    »Schnehage, Engel!«, übersetzte Anwar für Agha.
    Die beiden staunten über meinen schönen Flügelabdruck.
    »Nee, Schnee-Engel! Das hat mit mir nichts zu tun!«
    »Doch! Schnehage, Engel!«, beharrte Anwar ehrfürchtig. Wahrscheinlich erwartete er, dass ich jeden Moment gen Himmel aufstieg.
    »Quatschkopp!« Ich griff nach einer Handvoll Kerne und warf sie gespielt nach Anwar.
    Kichernd ging er in Deckung und schleuderte eine Handvoll zurück.
    »He! Was glaubst du, wen du da vor dir hast?!«
    Agha, der zuerst seinen Augen nicht traute, taute nun auch auf und beteiligte sich. Die anderen Arbeiter ließen sich auch nicht lange bitten:
    »Hier, nimm das!«
    »Und aaaah, zack, Volltreffer!«
    »In Deckung!«
    »Pah, zwei gegen einen, das ist unfair!«
    Gelächter aus jungen Männerkehlen, und, na gut, aus einer mittelalten Frauenkehle ertönte im stillen Hof.
    Irgendwann war ich bis zum Hals in Kernen eingegraben. Kindheitserinnerungen tauchten auf, daran, wie ich, die kleine Sybille, am Rommele-Strand von Friedrichshafen bis zum Kinn eingebuddelt im Sand saß und mein Vater lachend mit dem Fotoapparat davorstand.
    Plötzlich fiel die ganze Last dieses Tages, ach was, die ganze Last der letzten Wochen und Monate von mir ab. Ich fühlte mich leicht und frei und so jung wie schon lange nicht mehr. Das Merkwürdige war: Zu diesen schlichten Burschen hatte ich Vertrauen. Sie wollten mir nichts Böses. Nachdem mein Vertrauen zu Dadgul so viele Risse bekommen hatte, waren diese Jungs meine einzigen Freunde.
    Agha und Anwar hielten sich den Bauch vor Lachen. Auch ihnen, den Kriegskindern, tat diese harmlose Rumtoberei mal so richtig gut.
    Plötzlich knarzte es.
    »Sagt mal, seid ihr bescheuert?« Dadguls verstrubbelter schwarzer Schopf tauchte in der Dachluke auf. »Spinnt ihr, das sind kostbare Baumwollkerne!«
    »Ist ja gut, Chef!« Schuldbewusst rappelten wir uns auf und schüttelten uns die Kerne aus den

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