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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Agha über den Fluss in die Neubausiedlung sprach ich mit Dadgul kein einziges Wort. Ich hatte verstanden: Mit meinem Geld hatte sich Dadgul über die Jahre Macht und Einfluss gesichert, er brauchte mich nicht mehr. Dadgul, mein Pflegesohn, für den ich so viel getan hatte, war sicherlich froh, dass er mich los war.
    Anwar und sein Vater erwarteten mich bereits vor dem fast fertigen Häuschen, das natürlich schon von einer hohen Lehmmauer, der Purdah, umgeben war. Der Hof war zwar noch unbebaut und der Garten unbeackert, aber immerhin wehten schon kleine Gardinen vor meinem Zimmerfenster. Anwar hatte sich Geld vom Mund abgespart, um auf dem Basar ein paar Stoffreste für mich zu kaufen, nur damit ich es gemütlich hätte.
    Ich hockte mich in den Staub, unterschrieb die Adoptionsunterlagen, die mich nun offiziell zu Anwars Mutter machten, nahm die Einverständniserklärung seines Vaters Mohammad in Form eines Fingerabdrucks ab und umarmte die beiden.
    »Willkommen in unserer Familie!«, murmelten sie scheu, und der Alte, der keinen einzigen Zahn mehr im Mund hatte, reichte mir seine knochigen Hände. Hände, mit denen er für zwölf Kinder gesorgt hatte, bis die Gicht sie bezwungen hatte. Er war mir sehr dankbar. Eines von ihnen hatte er jetzt »unter der Haube«, wenn auch in einem etwas unüblichen Sinne. Aber er spürte, dass das eine gute Sache war – besser als eine Braut.
    Gemeinsam mit Anwars Bruder Nias und seinen Freunden Hamidullah und Assad richteten wir das Häuschen halbwegs gemütlich ein. Meine nächtliche Bewachung war perfekt organisiert: Auf dicken Decken saßen zwei Bewacher im Wohnbereich, ein dritter bezog Stellung auf dem Dach, von wo aus er nach Nassery hinüberspähte – denn das Nachbardorf war mit Katachel nicht gerade eng befreundet –, und mein »Sohn« Anwar wachte direkt vor meiner Schlafzimmertür. Es war fast wie früher mit Dadgul, und Schwermut überkam mich.

39
    Ein paar Tage lang ging alles gut. Ich richtete mich in meinem neuen Häuschen ein, und Anwar war ein bescheidener, dankbarer Junge, der einfach nur froh war, in meiner Nähe und Dadguls Tyrannei entronnen zu sein. Hier bei mir bekam er wenigstens was Anständiges zu essen. Und freundliche Wertschätzung. (So wie ich sie Dadgul immer gegeben hatte! Es war für mich unfassbar, dass er sich so gar nichts davon abgeschaut hatte!) Wir kochten jeden Abend zusammen in meiner winzigen Küche. Sie hatten mir einen Generator angeschlossen, denn besonders abends fiel in unserer Siedlung regelmäßig der Strom aus. Wir warfen in die Pfanne, was wir auf dem Markt hatten auftreiben können: Tomaten, Zwiebeln, Kartoffeln und als besondere Spezialität aus meiner großen Reisetasche: Spaghetti. Damit hatte ich Dadgul jahrelang ernährt. Warum sollten die Jungs der Familie Mahmad nicht auch mal in den Genuss dieser Köstlichkeit kommen?
    »Unsere Eltern wollen dich zum Dank zum Tee einladen«, sagte Anwar schüchtern, während er ungeschickt versuchte, die Spaghetti auf die Gabel zu drehen. »Unsere Mutter möchte dich kennenlernen!«
    »Aber gern!« Ich war gerührt, dass diese bitterarmen Leute mich in ihr Lehmhäuschen am Bach einluden, um ihre spärlichen Teevorräte mit mir zu teilen.
    Und so nahmen Anwar und ich am nächsten Morgen mit Assad als Beschützer die neue Brücke über den Fluss nach Katachel. Assad blieb mit der Kalaschnikow am Auto stehen, während Anwar und ich mit eingezogenen Köpfen in die winzige Lehmhütte schlüpften. Meine Augen mussten sich erst einmal an die Dunkelheit gewöhnen. Es gab wirklich kein einziges Fenster! Ein muffiger Geruch schlug mir entgegen. Es kam mir vor, als würde ich die Höhle wilder Tiere betreten. Darin saßen Vater Mohammad, Mutter Sargola und die einzige Schwester, die etwa vierzehnjährige Sarmina, auf schmuddeligen Matratzen, die auf dem unverputzten Lehmboden ausgebreitet waren. Sie packten meine Hände und murmelten überwältigt Dankesworte. Ich nahm all mein Dari zusammen und bedankte mich im Gegenzug für ihr Vertrauen. Sarmina erhob sich und holte Teegläser, um mir aus einer Kanne trüben Tee einzuschenken. Anwar, der mich inzwischen kannte, kam ihr zuvor und überreichte mir ein Päckchen Saft. »Die ehrwürdige Ade Sheni Hagei trinkt kein Wasser aus dem Brunnen. Davon bekommt sie Durchfall.«
    Ich lächelte meine Gastgeber an und nippte an meinem Saft, als säße ich in Bergfeld bei Generaldirektors auf der Ledergarnitur, als plötzlich ein Schuss durch die Stille

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