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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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Tor.
    Und da sah ich auch schon das Ausmaß der Katastrophe: Lehmige Wassermassen strömten durchs Dorf, rissen alles mit sich – Holzlatten, Plastik, Unrat, Mehlsäcke, Schulmöbel … Mir brach das Herz. »Was ist mit unseren Häusern in Katachel Arab?!«
    »In Arab sind vierundfünfzig Häuser einfach weg«, schrie Dadgul, um die tosenden Wassermassen zu übertönen. Das Entsetzensgeschrei der Menschen tat ein Übriges. Mütter suchten ihre Kinder, Männer versuchten, mit bloßen Händen halbe Hausmauern zu retten, Hühner flatterten entsetzt über ihre Köpfe hinweg, Ziegen hatten sich von ihren Pflöcken losgerissen und meckerten laut nach ihren Zicklein, Esel brüllten, Hunde bellten: Jeder versuchte zu retten, was noch zu retten war.
    Ich wollte über die Hauptstraße in Richtung Neubausiedlung eilen, aber die Hauptstraße war nicht mehr zu finden. Da war nur noch ein reißender brauner Strom.
    Angesichts dieser Katastrophe waren meine Sorgen nebensächlich. Hier ging es um viele Menschenleben. »Los, Dadgul, komm!«
    Zusammen mit anderen Helfern und den beiden deutschen Journalisten sprangen wir in die Autos, die noch halbwegs trocken waren und rasten zu den Katastrophengebieten.
    »Hast du deinen Fotoapparat, Mama?«
    »Wie immer, Dadgul!«
    Ich fotografierte all das Elend, das mir vor die Linse kam. Schließlich bretterten wir zu einem der deutschen Stützpunkte für den Wiederaufbau der Infrastruktur, um wegen der Naturkatastrophe Soforthilfe zu beantragen. Ich zeigte die von mir gemachten Aufnahmen. Fassungslos starrten die Mitarbeiter auf das Display: Sie selbst hatten von der sich in nur zwanzig Kilometern Entfernung abspielenden Katastrophe gar nichts mitbekommen. Da musste erst die todkranke Sybille vorbeischauen, um denen Beine zu machen.
    »Füllen Sie diesen Antrag aus, dann bekommen Sie relativ schnell Decken und Zelte.«
    Mit zitternden Fingern füllte ich den blöden Wisch aus. Mensch, da draußen tobte die Hölle, und ich musste hier den Griffel halten und mein Kreuzchen machen!
    »Und was ist mit Brot?«
    »Das fällt nicht unter Soforthilfe.«
    »Sollen die Leute etwa Lehm fressen?«
    »Wir können nicht zaubern.«
    »Und Steine, damit die Brücke schnellstmöglich repariert werden kann?«
    Achselzucken. »Nothilfe bedeutet nur Decken und Zelte.«
    »Und wie lange dauert es, bis der Antrag auf Brot und Steine berücksichtigt wird?«
    Erneutes Achselzucken. »Normalerweise so vier bis sechs Wochen.«
    »Na prima. Bis dahin sind alle verhungert und ersoffen.«
    »Ich tue hier nur meine Pflicht«, blaffte es zurück.
    Am liebsten hätte ich den Leuten hier einen Vortrag über Katachel e . V. gehalten. Über schnelle, unbürokratische Hilfe. Aber dazu fehlte mir einfach die Kraft.

41
    Die nächsten Tage waren wir vollauf damit beschäftigt, das ärgste Leid der Katacheler zu lindern. Wir verteilten Hilfsgüter, besonders Brot, kümmerten uns um die vielen Obdachlosen, die nur noch hatten, was sie am Leib trugen. Ich setzte alle Hebel in Bewegung, rief in Deutschland an, bat die deutsche Vorstandsfrau von Katachel. e . V., Lilo Weber, schnellstmöglich Katastrophengeld zu schicken, und hoffte auf große Spendenbereitschaft, wenn der Beitrag der beiden Journalisten im deutschen Fernsehen gezeigt würde. Ich konnte hier jetzt auf keinen Fall weg. Der Kapitän verlässt nicht das sinkende Schiff.
    Natürlich blieb ich keine Nacht länger bei Dadgul. Die Atmosphäre war im wahrsten Sinne des Wortes vergiftet.
    Ich hielt mich wieder an Anwar, der eine Notunterkunft für uns organisiert hatte, und hoffte, dass unser kleines Neubauhäuschen in Katachel Arab so schnell wie möglich trockengelegt würde. Dabei half ich tatkräftig mit. Ich konnte zwar noch keine Wassereimer schleppen, aber meine Helfer koordinieren. Inzwischen hatte ich über ein Dutzend Männer auf meiner Seite, die alle erklärte Gegner von Dadgul waren. Das Dorf war nicht nur durch das Hochwasser in zwei Lager gespalten! Allerdings fürchteten sie sich alle vor seinen intriganten Machenschaften. (Wer Dadgul offen die Stirn bot, hatte am nächsten Tag keine mehr.)
    Der Ton zwischen Dadgul und mir war sachlich, aber bemüht – mit anderen Worten ziemlich angespannt.
    Anissa blieb dabei, dass das Haarfärbemittel aus Versehen ins Essen geraten sei, Dadgul habe es mit Paprikapulver verwechselt, da er sonst mit der Küchenarbeit nichts am Turban hätte. Nur mir zu Ehren habe er selbst Hand anlegen wollen, Kochen sei schließlich

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