Drachenkinder
in dem nur ein oder zwei spärliche Lichter brannten, und genoss den lauen Nachtwind. Anwar, mein Sohn!, dachte ich. Kleiner Dusselkopp. Pass auf dich auf.
Eine Mischung aus Traurigkeit und Heimweh erfüllte mich. Einerseits wollte ich bleiben, in meinem Katachel, das mir zur zweiten Heimat geworden war. Andererseits wusste ich, dass die Bedrohung, die von Dadgul ausging, von Minute zu Minute wuchs. Mein Ziel war es, das Projekt zu retten, indem wir es teilten. Die Bauprojekte sollten in Dadguls Hand bleiben, aber die Witwenhilfe in der von Anwar und seiner Familie. Das musste klappen. Etwas anderes blieb mir nicht übrig, denn Dadgul durfte nicht völlig das Gesicht verlieren, sonst würde er das ganze Projekt zerstören.
Schon am nächsten Morgen stand Dadgul in aller Frühe vor der Tür. Offensichtlich hatte er schon Wind von Anwars Verschwinden bekommen. Er tat aber so, als wäre er in friedlicher Mission unterwegs. Er war in Begleitung von frommen Männern mit langen Bärten, die vermitteln wollten. So eine Art Schlichtungsgericht, wie es hier üblich war.
Der Muezzin rief gerade vom Minarett, die Sonne ging auf, und Dadgul sagte feierlich: »Mama, es möge Frieden sein.«
Ich verzog das Gesicht. »Nee, jetzt nicht wieder dieses Spielchen, Dadgul.«
Die Männer warfen sich bereits auf die Knie, verbeugten sich in Richtung Mekka und beteten inbrünstig zu Allah, dass Ade Sheni Hagei und der große Kommandante sich doch wieder vertrugen.
Dadgul betete scheinheilig mit. Auch er warf sich auf seinen Gebetsteppich, verbeugte sich tief und murmelte seine Gebete.
Na gut, dann eben DIE Nummer. Ich ließ mich nicht lumpen und betete mit. Schon aus Respekt vor den anderen. Schließlich musste ich ihnen totale Normalität vorspielen, damit unsere geplante Abreise nach Deutschland nicht gefährdet wurde. Ich tat so, als wäre ich mit allem einverstanden.
»Klar. Es herrsche Friede.«
»Na also!«, sagte Dadgul. »Dann hätten wir das ja geklärt.«
»Okay, Männer.« Ich klatschte in die Hände.
»Wie wär’s mit einem Mittagessen!«
»O ja, Ade Sheni Hagei! Großartig!«
»Ihr glaubt gar nicht, wie gut sie kocht!«, schwärmte Dadgul seinen Begleitern vor. »
Jetzt galt es, die freundliche Hausfrau zu spielen. Im Grunde gab ich die Sybille, die Dadgul kannte: Ich war nie nachtragend gewesen. Hatte immer nach vorn geschaut – eine Philosophie, die mich bisher gut durchs Leben getragen hatte.
»Hass und Neid«, hatte ich ihm oft gesagt, »sind schlechte Berater. Sie rauben dir deine ganze Energie, die du für Sinnvolleres einsetzen kannst.«
»Ade Sybille ist echt in Ordnung!« Dadgul zog sich lachend die Schuhe aus und ließ sich in meiner Küche nieder. Alle folgten seinem Beispiel. Beiläufig sah er sich um: »Wo ist dein Liebling?«
»Wie?« Ich rührte in der Nudelsoße.
»Anwar.«
»Ach!« Ich tat überrascht. »Ja, der ist bei seiner Mutter. Seit der Überschwemmung hat die es mit den Bronchien. Er hat sie bei Verwandten untergebracht und schaut jetzt nach dem Rechten.«
Dadgul gab sich damit zufrieden.
»Mama, machst du uns diesen göttlichen Nachtisch, den du in Bergfeld immer gemacht hast?«
»Du meinst die Paradiescreme von Dr. Oetker?«
»Männer, diese Frau führt uns alle ins Paradies! Dafür müssen wir noch nicht mal sterben!«, schwärmte Dadgul seinen Gebetsbrüdern vor. »So etwas Wunderbares habt ihr noch nie geschmeckt.«
Da hatte er sicher nicht gelogen. Für afghanische Gaumen war Dr. Oetkers Vanille-Paradiescreme bestimmt eine Offenbarung. (Nur schade, dass ich nicht verdorben genug war, ihm etwas hineinzumischen!)
Der nächste Tag stand noch mal im Zeichen einer Schuleinweihung. Im zwanzig Minuten von Katachel entfernten Tarnau warteten schon Hunderte von Männern auf mich, Lehrer, Dorfälteste, Leute aus der Kunduz-Provinzverwaltung, ja sogar das Deutsche Auswärtige Amt. Mama Schnehage musste ihre Rede halten, Dadgul wurde gelobt für den reibungslosen Bau unserer vierundzwanzigsten Schule in der Region. Ich war natürlich auch wieder stolz wie Bolle auf unser tolles Projekt und dachte: Alles wird gut, das werde ich schon irgendwie hinkriegen. Denn eines musste man Dadgul lassen: Er kümmerte sich wirklich zuverlässig um die Bauprojekte.
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Mein Rückflug verlief ohne Komplikationen. Ich war nur unendlich traurig, dass es diesmal solche Konflikte gegeben hatte. Einerseits war ich unglaublich stolz auf das Projekt – wieder war eine neue Schule für achthundert Kinder
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