Drachenkinder
entstanden –, andererseits hatte ich große Angst vor der Wiederkehr.
Den Kopf an die Scheibe gelehnt, ließ ich die Geschehnisse immer wieder Revue passieren, um den Moment zu finden, an dem das Ganze zwischen Dadgul und mir gekippt war. Vielleicht sogar schon an dem Tag, an dem der Malek von Ishantup mir die Stute geschenkt hatte? Ja, da war Dadgul schon extrem eifersüchtig gewesen und mein Vertrauen ins Wanken geraten. Ich war ohne Dadgul Bescheid zu sagen weggegangen. Nachts. Allein. Und am nächsten Tag hatte Dadgul absichtlich falsch übersetzt, um einen Keil zwischen den Malek und mich zu treiben. Ja. Das war der Wendepunkt gewesen. Danach war es mit unserer Freundschaft steil bergab gegangen.
Ich konnte es einfach nicht fassen. Mein ganzes Lebenswerk hing am seidenen Faden. Ein Faden, der jeden Moment reißen konnte. Das musste ich unbedingt verhindern. Irgendwas würde mir schon einfallen. Im Moment war ich zu erschöpft, um darüber nachzudenken.
Drei Tage nach meiner Ankunft kam Anwar wohlbehalten in Frankfurt an. Erleichtert nahm ich meinen neuen Ziehsohn mit nach Hause.
Es war wie ein Flashback, nur anders: Meine Kinder waren inzwischen aus dem Haus, sodass nur noch Micki in der Küche auf der Eckbank saß und den fremden Gast willkommen hieß. Das aber sehr freundlich.
»Na dann, herzlich willkommen, Anwar!« Micki schüttelte dem jungen Afghanen herzlich die Hand. »Ich habe schon viel von dir gehört. Nur Gutes natürlich!«
»Hä?«, machte Anwar in meine Richtung.
»Du musst jetzt Deutsch lernen, Anwar.«
Gleich am nächsten Tag meldete ich ihn für einen Integrationskurs in Wolfsburg an. Ein Bekannter aus unserem Nachbardorf nahm ihn jeden Morgen mit. Das Abholen war dann meine Sache.
Im Gegensatz zu Dadgul verhielt sich Anwar sehr zurückhaltend und verzog sich jeden Abend in sein Zimmer. (Na gut, da stand inzwischen auch ein eigener Fernseher. Micki ließ sich unsere traute Zweisamkeit durchaus was kosten.)
»Was soll ich nur mit Dadgul machen?«, fragte ich meinen Mann immer wieder verzweifelt.
Micki war ein wunderbarer Zuhörer. Bevor er mir Ratschläge gab, half er mir erst mal beim Nachdenken.
»Du willst Katachel e . V. natürlich weiterführen, wie ich dich kenne?!«
»Ja, natürlich, Micki!« Wie ein Tiger lief ich im Wohnzimmer hin und her. »Nur weil ein faules Ei dabei ist, kann ich doch nicht ein ganzes Dorf im Stich lassen!«
»Zumal es inzwischen ja nicht mehr nur ein Dorf ist«, sagte Micki.
Ich hatte meine Fotos von Menschen, Landschaft und neuen Projekten auf die Vereinswebseite gesetzt. Micki klickte sich durch die Bildergalerie und las die Zahlen vor, die belegten, was ich alles an Spenden lockergemacht und wie ich sie sinnvoll investiert hatte. »Du hast weit mehr bewegt, als man das einem Menschen zutrauen würde!« Er drehte sich auf seinem Bürostuhl zu mir um und lächelte mich liebevoll an. »Du solltest zu Wetten, dass? gehen: Wetten, dass eine Hausfrau und Mutter mehr als zwanzig Schulen, fünfzig Brücken, hundert Brunnen und tausend Häuser bauen kann? Und zwar nur, weil sie das Wort Nächstenliebe wörtlich nimmt?«
»Ach, wenn sich nur eine Sau dafür interessieren würde!«, sagte ich leise. Mit etwas zu viel Schwung klappte ich den Laptop zu.
»Ach, komm! Du bist müde und deprimiert, und das kann ich gut verstehen.« Micki nahm meine Hand. »Aber jetzt schauen wir wieder nach vorn und überlegen, wie du dein Projekt retten und Dadgul isolieren kannst. Mit den Waffen einer Frau.«
»Und die wären?«
Micki tippte sich vielsagend an die Stirn. »Köpfchen! Verstand! Das sind die Waffen einer Frau – jedenfalls MEINER Frau.«
Da hatte er recht. Ich lächelte ihn an. Allein, dass er WIR sagte! WIR schauen nach vorn!
»Mach ihn platt!«, sagte Micki. »Aber nicht mit der Kalaschnikow, sondern mit Fakten!«
»Ich hab hier Unterlagen von ihm …« Ich suchte in meinem Aktenordner. »Mit denen könnte ich ihn vielleicht drankriegen. Ich habe nämlich den Verdacht, dass sie trotz der Regierungsstempel gefälscht sind!«
»Woran erkennst du das?« Micki rollte mit seinem Schreibtischstuhl näher an mich ran.
Ich setzte meine Brille auf. »In Afghanistan gibt es zwei Arten von Dokumenten, Urpis , Privatdokumente, und Sharaii , staatlich beurkundete Dokumente. Letztere tragen Stempel der Regierung und sind auf Vordrucken mit dem Vermerk ›Kunduz‹ verfasst. Die Unterlagen von Dadgul scheinen zwar auf den ersten Blick korrekt zu sein, aber sind
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