Drachenkinder
Sommerabenden spazierten meine afghanischen Freunde, sprich der Oberkommandante, die Ältesten und Weisen aus dem Morgenland und ich mit den Generälen und Offizieren der deutschen Bundeswehr durch das Dorf. Die wichtigen deutschen Würdenträger hatten ihre Splitterschutzwesten und Waffen abgelegt, pflückten mit uns Weintrauben und Melonen, tranken Tee und plauderten entspannt mit uns.
Eines Abends überraschte Oberst Köster Dadgul und mich und überreichte uns ganz offiziell die Einsatzmedaille der Bundeswehr in der Aula unserer Schule. Da blieb kein Auge trocken. Kandigol heulte eine ganze Stoffwindel voll, und Nigargh gar ein Bettlaken. Diesen Moment hätte ich für immer festhalten wollen!
Doch dann kam eines Tages irgendein bescheuerter Befehl aus Potsdam: Die Bundeswehr brauche mehr Platz und müsse ihr gemütliches Lager mitten in Kunduz abbrechen. Plötzlich durften die Soldaten auch nur noch mit gepanzerten Fahrzeugen durch Kunduz fahren. Nach amerikanischem Vorbild zog die Einheit der Deutschen Bundeswehr in einen Hochsicherheitstrakt weit oberhalb der Stadt, ganz in der Nähe des Flughafens. Genau dorthin, wo die Russen früher ihr Hauptquartier gehabt hatten. Das weckte schlimme Erinnerungen in Dadgul und seinen afghanischen Freunden. Sie fühlten sich wieder »bewacht« und »besetzt« von dem » Provincial Reconstruction Team , was wortwörtlich »Aufbauteam« bedeutet. Welch eine Farce! Ich selbst ärgerte mich am meisten über die Kosten dieser militärischen Festung: Die vielen Millionen Euro, die in seine Sicherheitstechnik aus Schleusen, Überwachungskameras und Abhörwanzen investiert wurden, hätten bei den Bewohnern Afghanistans deutlich mehr Sinn gemacht. Mir blutete regelrecht das Herz.
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Mein Herz blutete auch immer, wenn ich von den Schicksalen der Mädchen erfuhr.
In Jangalbashi, einem Ort, in dem Dadgul lange als Widerstandskämpfer gelebt hatte, lernte ich ein siebzehnjähriges Mädchen kennen, das gemeinsam mit ihrer fünfzehnjährigen Schwester von ihren Eltern als »Wiedergutmachung« an die Familie »verschenkt« worden war, deren Sohn im Streit erschossen worden war: Man verzichtete lieber auf Polizei und Gericht und machte die Sache »unter sich« aus. Die Mädchen zahlten den Preis für den Übermut ihres Bruders. Sie mussten nicht nur harte Arbeit verrichten, sondern wurden von den männlichen Mitgliedern der Familie auch noch für anderes »benutzt«. Später wurden sie von dieser Familie als Bräute »verkauft«.
Der Handel mit diesen jungen Mädchen war schlimmer als der Handel mit Kühen oder Ziegen. Übrigens wurde diese Art von »ausgleichender Gerechtigkeit« zu Talibanzeiten verboten, ebenso wie die Verheiratung junger Mädchen mit alten Lustgreisen. Doch später waren diese Sitten plötzlich wieder gang und gäbe.
Heiraten ist in Afghanistan sowieso eine Sache, die wir Europäer nicht richtig verstehen können. Sexuelle Kontakte zwischen den Geschlechtern sind erst nach der Hochzeit erlaubt. Vorher werden die Mädchen gehütet wie die Augäpfel. Aber zum Heiraten braucht man erst mal Geld, viel Geld, denn eine Frau muss gekauft werden. Heutzutage liegen die Kosten nicht unter fünftausend Dollar. Das heißt, dass die ganze Familie sparen muss, damit man den Söhnen Ehefrauen kaufen kann. Hat man selbst Töchter, ist das kein Problem. Aber was, wenn Allah die Sache ungleich verteilt hat, wie in der Familie Mahmad mit zehn Söhnen und einer Tochter. Da kann man zwar einmal tauschen, aber danach ist erst ein Sohn sexuell versorgt. Was ist mit den anderen? Dann muss jeder Sohn warten, bis er an der Reihe ist. Wenn man arm und Sohn Nummer zehn ist, kann es passieren, dass das Geld für den Jüngsten erst zusammengekommen ist, wenn dieser die fünfzig erreicht hat. Und wenn dann ein preisgünstiges junges Mädchen, vielleicht noch mit kleinen Behinderungen, gekauft wird, regen sich die Europäer über die alten Lüstlinge auf. Dabei kennen sie nur das afghanische Prinzip nicht.
Manche jungen Männer, oder besser gesagt viele junge Männer, gehen den schnellen Weg: Sie setzen sich abends einfach den schwarzen Turban auf, verhüllen das Gesicht und rauben mit gezückter Kalaschnikow einfach die Höfe aus, um an Geld zu kommen. Lukrativ ist es auch, die Kinder reicher Familien zu entführen. Das ist relativ einfach. Und für Al Qaida mal eine Bombe zünden, das füllt auch schnell die Familienkasse. Gegen solche Aktionen ist ein ISAF -Einsatz ohnehin machtlos.
Wie
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