Drachenkinder
weiterhin für »meine« Katacheler zu sammeln und im Wohlstandsland Deutschland auf ihr Elend aufmerksam zu machen. Sie hatten niemanden außer mir. Dieser Verantwortung war ich mir voll bewusst. Dadgul hielt dort währenddessen die Stellung, verwaltete unsere Spendengelder, verteilte sie in meinem Sinne und schickte gewissenhaft Fotos von Witwen und Waisen, um zu dokumentieren, dass unsere Spenden auch wirklich bei den Bedürftigen ankamen: Auch während der Talibanzeit, in der Fotografieren streng verboten war. So kam es, dass die Bergfelder Familien ihre Klamotten, Spielsachen, Schultaschen, Sportausrüstungen, Bettdecken und Nähmaschinen auf den Fotos wiederfanden. Dankbare Gesichter strahlten sie an. Und jedes Mal erinnerte ich mich wieder daran, wie es gewesen war, MEINEN Rollstuhl zum ersten Mal im Besitz eines dankbaren Flüchtlings zu sehen.
Vermehrt hielt ich Vorträge, inzwischen auch vor Generälen und ganzen Einheiten der deutschen Bundeswehr, und wurde als gefragte Beraterin überall hinzugezogen. Ich ging bei den Jungs quasi ein und aus, genoss ihr Vertrauen und gehörte dazu. So kam es, dass ich eines Tages bei einem sehr saloppen Gespräch unter Soldaten mitbekam, wie über »meine Afghanen« gesprochen wurde: Die Afghanen würden vor der Hochzeit ausnahmslos homosexuelle Beziehungen unterhalten, verkündete ein blasierter Offizier unter beifälligem Gelächter. Ansonsten würden sie sich als »Eselsficker« betätigen. Er hielt sich wohl für sehr witzig! Für mich war das wie ein Schlag ins Gesicht, und ich verlangte, dass man meinen afghanischen Freunden mehr Respekt und Achtung entgegenbrachte. Der Offizier bekam dann richtig Ärger, nachdem ich mich bei seinem Vorgesetzten über seine Wortwahl beschwert hatte. Gut so!
Wenn ich mit der Bundeswehr nach Afghanistan flog, waren auch immer wieder hohe Würdenträger aus der deutschen Außenpolitik mit dabei: Minister und Ministerinnen für auswärtige Angelegenheiten saßen bei Champagner und Lachs vorne in breiten Clubsesseln und ließen sich für den Stern und den Spiegel ablichten, während ich bei den einfachen Soldaten hinten saß. Es waren nette, junge Burschen im Alter meines Sohnes Simon, mit denen ich Karten spielte und über den VfL Wolfsburg fachsimpelte.
Anfangs war das Verhältnis der deutschen Soldaten zu »meinen« Katachelern noch sehr entspannt: Unter grünen Pfirsichbäumen unweit ihres Lagers im benachbarten Kunduz streichelten die Soldaten den Vereinshund oder spielten mit den Katzen, ließen die orientalische Atmosphäre wie aus Tausendundeiner Nacht auf sich wirken. Für die deutschen jungen Männer war das ja alles wie im Märchen! Sie hatten einen selbstverständlichen, friedlichen Kontakt zur afghanischen Bevölkerung und bestaunten deren Alltag mit Basar, Eselskarren und vorbeihuschenden Frauen in Burkas. Die Einheimischen schauten neugierig bei ihnen vorbei. Ihr Soldatenlager befand sich im ehemaligen Privatwohnsitz des Talibangouverneurs Hadja Omar, der erst nach Dubai »ausgewandert« war, (sprich, sein Geld in Sicherheit gebracht hatte) und jetzt direkt neben dem Stützpunkt eine Prachtvilla erbaut hatte. Die Deutschen residierten also nicht schlecht. Sie machten sich nützlich, bummelten über den Basar oder spielten mit meinen Jungs aus Katachel Fußball. Es war eine Zeit der deutsch-afghanischen Freundschaft, des friedlichen Aufbaus, die mein Herz mit Freude füllte. Meine deutschen Soldaten, von denen ich inzwischen viele mit Namen kannte, kamen nach Katachel zum Tee und zu jedem Schulfest. Sie überreichten an Weihnachten Kuscheltiere, kamen zu Hochzeitsfeiern und genossen afghanische Spezialitäten. Im Sommer angelten sie mit den Dorfbewohnern im Fluss und ritten über die Felder. Das reinste Idyll. Wir lieferten uns sogar erhitzte Fußballturniere, Afghanistan gegen Deutschland, wobei »meine« Jungs aus Katachel die VfL -Wolfsburg-Trikots trugen. Das Gejubel auf dem Dorfplatz war riesengroß, ein wahres Fest der Völkerverständigung. Das waren die Momente, in denen tiefe Dankbarkeit und Stolz von mir Besitz ergriffen. Was hatte ich, eine einzelne Hausfrau und Mutter aus Bergfeld, doch alles geschafft! Du kannst dich ruhig mal zurücklehnen und dein Werk genießen!, hörte ich Micki liebevoll sagen. Wer außer dir hätte so etwas auf die Beine stellen können? Wenn alle Menschen dieser Welt so denken und handeln würden wie du, Sybille, gäbe es keinen Krieg und keinerlei Ungerechtigkeit mehr.
An lauen
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