Drachenläufer
Schwestern erfuhr, ein Bein gebrochen hatte, als er vom Dach eines fahrenden Busses heruntergerutscht war. Das Bein war eingegipst und lag in einer Extensionsschiene mit Gewichtszug.
Suhrabs Bett stand neben dem zweigeteilten Fenster, durch dessen untere Hälfte das Licht der Morgensonne strahlte. Ein uniformierter Angestellter des Sicherheitsdienstes stand am Fenster und knabberte an gekochten Melonensamen - Suhrab stand, weil suizidgefährdet, rund um die Uhr unter Aufsicht. Das sei so Vorschrift, hatte mich Dr. Nawaz informiert. Der Wachposten tippte grüßend an die Kappe, als er mich sah, und verließ den Raum.
Suhrab steckte in einem kurzärmeligen Krankenhauspyjama. Er lag auf dem Rücken, hatte die Decke über die Brust gezogen und das Gesicht dem Fenster zugewandt. Ich dachte, er schlafe, doch als ich einen Stuhl ans Bett rückte, schlug er die Augen auf. Er schaute mich an und schaute wieder weg. Trotz all der Blutkonserven, die man ihm verabreicht hatte, sah er schrecklich bleich aus, und in der Beuge seines rechten Arms prangte ein großer violetter Bluterguss.
»Wie geht es dir?«, fragte ich.
Er antwortete nicht. Er blickte durchs Fenster auf den krankenhauseigenen Spielplatz mit Sandkasten und Schaukel. In der Nähe, beschattet von Hibiskusbäumen, spannte sich ein bogenförmiges Spaliergitter, an dem ein paar grüne Trauben rankten. Eine Hand voll Kinder spielte mit Eimerchen und Schaufel im Sandkasten. Der Himmel war ein wolkenloses Blau, und ich entdeckte ein winziges Flugzeug, das zwei weiße Streifen hinter sich zurückließ. An Suhrab gewandt, sagte ich: »Ich habe vorhin mit Dr. Nawaz gesprochen. Er meint, dass du schon übermorgen entlassen werden könntest. Freut dich das?«
Wieder blieb er mir eine Antwort schuldig. Der Punjabi auf der anderen Seite des Zimmers rührte sich im Schlaf und stöhnte. »Das Zimmer gefällt mir«, sagte ich und versuchte, nicht auf Suhrabs bandagierte Handgelenke zu blicken. »Es ist hell und hat eine schöne Aussicht.« Für ein paar Minuten herrschte betretenes Schweigen. Schweiß trat mir auf Stirn und Oberlippe. Ich deutete auf die mit Erbsbrei gefüllte Schale, die auf der Konsole neben dem Bett stand und offenbar nicht angerührt worden war. »Du solltest etwas essen, wieder zu Kräften kommen. Möchtest du, dass ich dich füttere?«
Mit versteinerter Miene hielt er meinem Blick für eine Weile stand. Seine Augen waren immer noch leer und ohne Licht, genauso wie in der Schreckensnacht, als ich ihn aus der Wanne gezogen hatte. Ich langte in die Papiertüte zwischen meinen Füßen und zog eine antiquarische Ausgabe des Shahname heraus, die ich in dem persischen Buchladen gekauft hatte. Ich hielt Suhrab den Buchdeckel vors Gesicht. »Daraus habe ich deinem Vater vorgelesen, als wir Kinder waren. Wir sind auf den Hügel hinterm Haus gestiegen und haben uns unter den Granatapfelbaum gesetzt...« Ich stockte. Suhrab schaute unverwandt zum Fenster hinaus. Ich rang mir ein Lächeln ab. »Am liebsten hörte dein Vater die Geschichte von Röstern und Suhrab. Nach ihm bist du benannt, ich glaube, das weißt du.« Ich kam mir ein bisschen idiotisch vor. »Wie auch immer, in seinem Brief erwähnte er, dass es auch deine Lieblingsgeschichte sei. Also dachte ich, dir daraus vorzulesen. Würde dir das gefallen?«
Suhrab machte die Augen zu. Legte den violett angelaufenen Arm übers Gesicht.
Ich schlug die noch im Taxi markierte Seite auf. »Dann fange ich jetzt an«, sagte ich und fragte mich zum ersten Mal, welche Gedanken Hassan wohl durch den Kopf gegangen sein mochten, als er das Shahname schließlich selbst gelesen und entdeckt hatte, dass er all die Male von mir hinters Licht geführt worden war. »>Vernimm die tränenreiche Geschichte vom Kampf zwischen Suhrab und Röstern <«, fing ich zu lesen an. »>Es begab sich, dass Röstern eines Tages mit düsteren Vorahnungen von seinem Lager aufstand. Er dachte bei sich ...<« Ich las fast das ganze erste Kapitel vor und endete an der Stelle, wo der junge Krieger Suhrab von seiner Mutter Tahmineh, der Prinzessin aus Samengan, zu wissen verlangt, wer sein Vater ist. Ich klappte das Buch zu. »Soll ich weiterlesen? Im weiteren Verlauf kommt es zu Kämpfen. Erinnerst du dich? Suhrab führt sein Heer zur Weißen Burg im Iran. Soll ich weiterlesen?«
Er schüttelte den Kopf, worauf ich das Buch in die Papiertüte zurücksteckte. »Na gut«, sagte ich, froh darüber, dass er überhaupt reagiert hatte. »Vielleicht machen
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