Drachenläufer
trocken. Ich sehe seine Brust im Rhythmus des zischenden Beatmungsgerätes sich heben und senken und spüre, wie sich eine sonderbare Taubheit in mir ausbreitet, eine Taubheit, wie man sie in Schrecksekunden erfährt.
Ich schlafe ein. Als ich aufwache, sehe ich im Fensterausschnitt neben dem Schwesternzimmer die Sonne am milchigen Himmel aufgehen. Das Licht fällt schräg in den Raum und lenkt meinen Schatten auf Suhrab. Er hat sich nicht gerührt.
»Es wäre besser, Sie legten sich schlafen«, sagt eine Schwester. Ein neues Gesicht; es hat wohl, als ich schlief, einen Schichtwechsel gegeben. Sie führt mich in ein Wartezimmer gleich neben der Intensivstation. Es ist leer. Sie reicht mir ein Kissen und eine Decke. Ich bedanke mich und strecke mich auf dem Vinylsofa in der Ecke des Zimmers aus. Augenblicklich schlafe ich ein.
Im Traum befinde ich mich wieder im Wartesaal im Erdgeschoss. Dr. Nawaz tritt ein, und ich stehe auf, um ihm entgegenzueilen. Er nimmt seinen Mundschutz ab. Seine Hände sind überraschend weiß, die Nägel sauber manikürt; das Haar ist ordentlich gescheitelt. Ich sehe nicht Dr. Nawaz vor mir, sondern Raymond Andrews, den kleinen Botschaftsangestellten, der Tomatenpflanzen in Töpfen zieht. Andrews legt den Kopf auf die Seite. Verengt die Augen.
Allmählich fand ich mich in dem Krankenhaus, diesem Labyrinth aus verwinkelten Fluren und grellem weißem Neonlicht, immer besser zurecht. Ich machte die Feststellung, dass die Anzeige für den vierten Stock im Fahrstuhl des Ostflügels nicht aufleuchtete, wie sie sollte, dass auf ebendieser Etage die Tür zur Herrentoilette klemmte und nur mit Gewalt zu öffnen war. Ich machte die Feststellung, dass das Leben im Krankenhaus festen Rhythmen folgt. Morgens, kurz vor Schichtwechsel, herrschte hektische Betriebsamkeit, so auch um die Mittagszeit; still und ruhig waren die späten Abendstunden, während denen man nur in Ausnahmefällen Ärzte oder Schwestern auftauchen sah. Tagsüber wachte ich an Suhrabs Bett, nachts wanderte ich durch die Korridore, lauschte dem Klappern meiner Absätze auf den Steinfliesen und überlegte, was ich Suhrab sagen sollte, wenn er aufwachte. Ich kehrte immer wieder auf die Intensivstation zurück, zu dem zischenden Beatmungsgerät neben dem Bett - und kam der Antwort keinen Schritt näher.
Nach drei Tagen entfernten sie den Beatmungstubus und verlegten Suhrab in ein Bett im Erdgeschoss. Ich war zu diesem Zeitpunkt nicht zur Stelle, sondern im Hotel, in das ich abends zuvor zurückgekehrt war, um einmal richtig durchschlafen zu können. Doch daraus wurde nichts; ich hatte mich stattdessen die ganze Nacht unruhig hin und her geworfen. Am Morgen traute ich mich kaum ins Badezimmer. Es war gründlich sauber gemacht worden; auf dem Boden lagen neue Fußmatten. Unwillkürlich setzte ich mich auf den kühlen Rand der Porzellanwanne und stellte mir Suhrab vor, wie er warmes Wasser hatte einlaufen lassen. Ich sah ihn die Kleider ablegen, sah, wie er den Griff des Rasierers abschraubte, die Halterung öffnete und die Rasierklinge zwischen Daumen und Zeigefinger daraus entfernte. Im Geiste sah ich ihn ins Wasser eintauchen und eine Weile ausgestreckt in der Wanne liegen, die Augen geschlossen. Ich fragte mich, welche Gedanken ihm durch den Kopf gingen, als er die Klinge ansetzte.
Der Hotelmanager Mr. Fayyaz fing mich in der Empfangshalle ab. »Es tut mir sehr Leid für Sie«, sagte er. »Trotzdem muss ich Sie bitten, das Hotel zu verlassen. So etwas ist schlecht fürs Geschäft, sehr schlecht.«
Ich zeigte Verständnis für ihn und räumte das Zimmer. Die drei Tage, die ich im Krankenhaus zugebracht hatte, stellte er nicht in Rechnung. Als ich draußen auf ein Taxi wartete, ging mir durch den Kopf, was Mr. Fayyaz während unserer gemeinsamen Suche nach Suhrab gesagt hatte: Also wirklich, ihr Afghanen ... ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig. Ich hatte darüber gelacht, aber vielleicht hatte er doch Recht gehabt. War ich tatsächlich eingeschlafen, nachdem ich Suhrab konfrontiert hatte mit dem, was er am meisten fürchtete?
Ich erkundigte mich bei meinem Taxichauffeur nach einer persischen Buchhandlung. Er kannte eine in der Nähe und fuhr mich auf dem Weg zum Krankenhaus dort vorbei.
Das Zimmer, in dem Suhrab nun lag, hatte cremefarbene Wände mit einem dunkelgrauen Fries aus Stuck, der an manchen Stellen bröckelte. Er teilte sich dieses Zimmer mit einem zehnjährigen Punjabi, der sich, wie ich später von einer der
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