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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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mich an eine Situation, in der mir ähnlich zumute war: auf der Flucht mit Baba, mit anderen Flüchtlingen eingepfercht im Tank eines Tanklastzugs. Ich wollte mich losreißen von diesem Ort, aus dieser Realität, wie eine Wolke aufsteigen und davonschweben, mich auflösen in der schwülen Sommernacht irgendwo da draußen, hoch oben über den Hügeln. Stattdessen aber bin ich hier, mit bleischweren Beinen, Lungen ohne Luft und brennender Kehle. Ein Davonschweben gibt es nicht. Es wird heute Nacht keine andere Realität geben. Ich schließe die Augen, nehme die Gerüche um mich herum wahr, Schweiß und Ammoniak, vergällter Alkohol und Curry. Unter der Decke stürzen sich Motten auf das graue Licht der Leuchtstoffröhren, und ich höre das papierene Flappen ihrer Flügel. Ich höre Geplapper, gedämpftes Schluchzen, Schniefen. Jemand stöhnt, ein anderer seufzt, Fahrstuhltüren öffnen sich mit einem Pling, und von der Zentrale wird auf Urdu irgendjemand über Lautsprecher gerufen.
    Ich schlage die Augen wieder auf und weiß auf einmal, was ich zu tun habe. Ich sehe mich um. Mein Herz hämmert in der Brust, in den Ohren rauscht das Blut. Links von mir liegt eine kleine dunkle Abstellkammer. Darin finde ich, wonach ich suche. Ich nehme eins der gefalteten, gestapelten weißen Bettlaken und kehre damit zurück in den Flur. Vor der Toilettentür sehe ich eine Krankenschwester, die sich mit einem Polizisten unterhält. Ich mache die Frau auf mich aufmerksam und frage, wo Westen ist. Sie scheint nicht zu verstehen und kräuselt die Stirn. Mein Hals schmerzt, und der Schweiß brennt mir in den Augen. Wenn ich Luft hole, ist es, als würde ich Feuer einatmen, und ich glaube, ich weine. Ich wiederhole meine Frage. Ich bettle. Der Polizist zeigt mir schließlich die Richtung.
    Ich werfe meinen provisorischen jai-namaz, meinen Gebetsteppich, auf den Boden, knie darauf nieder und senke den Kopf. Meine Tränen tropfen auf das Laken. Ich verbeuge mich gen Westen. Mir wird bewusst, dass ich seit über fünfzehn Jahren nicht gebetet habe. Ich habe die Worte vergessen. Aber das macht nichts, ich sage, was mir noch einfällt: La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah. Es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet. Ich weiß jetzt, dass Baba irrte. Es gibt einen Gott, es hat ihn immer gegeben. Ich sehe ihn hier, in den Augen der Leute in diesem Flur der Verzweiflung, dem wahren Gotteshaus. Wer Gott verloren hat, findet ihn hier wieder, nicht in der weißen masjid mit ihren strahlenden Diamantenlichtern und den himmelwärts strebenden Minaretten. Es gibt einen Gott, es muss ihn geben, und nun werde ich beten, ich werde ihn bitten, mir zu verzeihen, dass ich ihn all die Jahre missachtet habe, dass ich betrogen, gelogen und gesündigt habe und mich ihm erst jetzt, in höchster Not zuwende; ich bitte, dass er sich mir gnädig, wohlwollend und gütig erweist, was er ja seiner Schrift nach ist. Ich verbeuge mich gen Westen, küsse den Boden und verspreche, die zakat zu entrichten, das namaz zu sprechen, während des Ramadan zu fasten und auch darüber hinaus; und ich werde jedes einzelne Wort seines heiligen Buches auswendig lernen und mich auf die Pilgerfahrt in die Wüstenstadt begeben und vor der Ka'bah das Haupt neigen. All das werde ich tun, und ich werde von nun an täglich seiner gedenken, wenn er mir doch nur diesen einen Wunsch erfüllt. An meinen Händen klebt Hassans Blut; gebe Gott, dass nicht auch das Blut seines Jungen an ihnen klebe.
    Ich höre ein Wimmern und bemerke, dass es aus meinem eigenen Mund kommt. Tränen rinnen über mein Gesicht, schmecken salzig auf den Lippen. Ich spüre, dass alle Augen auf mich gerichtet sind, verharre aber, die Stirn auf dem Boden. Ich bete. Ich bete und hoffe, dass ich nicht so tief in der Sünde verstrickt bin, wie ich immer befürchtet habe.
    Ü ber Islamabad bricht eine schwarze, Sternenlose Nacht herein. Es sind ein paar Stunden vergangen, und ich sitze auf dem Boden eines kleinen Warteraums jenseits des Flures, der zur Notaufnahme führt. Vor mir steht ein kleiner brauner Tisch voller Zeitungen und Magazine mit Eselsohren - eine 1996er Aprilausgabe der Time; eine pakistanische Zeitung mit dem Abbild eines Jungen, der vor einer Woche von einem Zug erfasst und getötet wurde; eine Hochglanz-Illustrierte mit lächelnden Hollywood-Stars. Mir gegenüber sitzt eine alte Frau in einem jadegrünen shalwar-kameez und mit gehäkeltem Schal in ihrem Rollstuhl. Sie ist eingenickt.

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