Drachenläufer
Ab und an bewegt sie sich und murmelt auf Arabisch ein Gebet. Vor Müdigkeit benommen, frage ich mich, wessen Gebete wohl in dieser Nacht erhört werden, ihre oder meine. Im Geiste vergegenwärtige ich mir Suhrabs Gesicht, das spitz zulaufende Kinn, die kleinen Ohrmuscheln, seine wie Bambusblätter geformten schmalen Augen, die Augen seines Vaters. Mich überkommt eine Traurigkeit so schwarz wie die Nacht, und ich spüre, wie sich mir der Hals zuschnürt. Ich brauche Luft.
Ich stehe auf und öffne das Fenster. Die durch das Fliegengitter strömende Luft ist modrig und heiß - sie riecht nach Dung und überreifen Datteln. Ich zwänge Mengen davon in meine Lungen, doch die Beklemmung bleibt. Ich sin ke wieder zu Boden, nehme das Ti me-Magazin zur Hand und blättere in den Seiten. Lesen kann ich nicht, kann mich auf nichts konzentrieren. Ich werfe das Heft zurück auf den Tisch und starre wieder auf die wirren Risse im Betonfußboden, auf das Spinnengewebe im Winkel zwischen Decke und Wand, auf die toten Fliegen auf dem Fensterbrett. Und immer wieder starre ich auf die Wanduhr. Es ist kurz nach vier. Dass man mich aus dem Raum mit der schwingenden Flügeltür ausgesperrt hat, liegt nun schon über fünf Stunden zurück. Und noch immer hat man mir keine Nachricht gegeben.
Der Boden unter mir fühlt sich zunehmend wie ein Teil meines Körpers an. Mein Atem wird schwerer, langsamer. Ich möchte schlafen, die Augen schließen, meinen Kopf auf den kalten, staubigen Beton legen. Und wegdösen. Wenn ich dann aufwache, werde ich vielleicht feststellen, dass es nur ein Traum war, was sich mir im Badezimmer des Hotels gezeigt hatte: das blutige Badewasser, in das einzelne Tropfen vom Wasserhahn fallen; der über den Wannenrand hängende linke Arm; die blutverschmierte Rasierklinge auf dem Spülkasten der Toilette - dieselbe Klinge, mit der ich mich am Tag zuvor rasiert hatte; und seine Augen, halb offen, aber ohne Licht. Vor allem diese Augen. Ich wünschte, ich könnte sie vergessen.
Irgendwann überkommt mich der Schlaf, und ich gebe ihm nach. Später kann ich mich nicht erinnern, ob und was ich geträumt habe.
Irgendjemand tippt mir auf die Schulter. Ich öffne die Augen. Da kniet ein Mann an meiner Seite. Er trägt eine OP-Haube wie die Männer hinter der schwingenden Flügeltür und einen Papiermundschutz. Dass ich Blut auf dem Mundschutz sehe, macht mir Angst. Auf dem Piepser des Mannes klebt das Bild eines jungen Mädchens mit großen dunklen Augen. Er nimmt den Mundschutz vom Gesicht, und es erleichtert mich, dass ich Suhrabs Blut nicht länger sehen muss. Seine Haut ist so dunkel wie die importierte Schweizer Schokolade, die Hassan und ich früher immer auf dem Basar von Shar-e-Nau gekauft hatten. Er hat schütteres Haar und haselnussbraune Augen mit langen Wimpern. Er spricht mit britischem Akzent, stellt sich mir als Dr. Nawaz vor. Am liebsten würde ich weglaufen, fürchte ich doch, nicht ertragen zu können, was er mir zu sagen hat. Er sagt, der Junge habe sich tiefe Schnittwunden zugefügt und sehr viel Blut verloren. Meine Lippen beten wieder:
La illaha il Allah, Mohammad u rasul ullah.
Man hat ihm mehrere Einheiten roter Blutzellen übertragen.
Was werde ich Soraya sagen?
Zweimal musste er wiederbelebt werden.
Ich werde das Pflichtgebet sprechen und die zakat entrichten.
Wenn sein Herz nicht so jung und kräftig wäre, hätten sie ihn wohl kaum zurückholen können.
Ich werde fasten. Er lebt.
Dr. Nawaz lächelt. Es dauert eine Weile, ehe ich begreife. Er sagt noch etwas, doch ich höre nicht mehr zu. Ich habe seine Hände ergriffen und an mein Gesicht gezogen. Ich weine meine Erleichterung in die mir fremden kleinen, weichen Hände. Er sagt nichts. Er wartet.
Die Intensivstation hat einen L-förmigen Grundriss. Uberall piepen Monitore, summen Maschinen. Dr. Nawaz führt mich durch ein Spalier von Betten, die mit weißen Plastikvorhängen voneinander abgetrennt sind. Suhrabs Bett steht im Seitenflügel und ist das letzte in seiner Reihe, nahe dem Schwesternzimmer, das gerade von zwei Schwestern in grünen OP-Kitteln besetzt ist. Sie erledigen Schreibarbeit und unterhalten sich leise. Im Fahrstuhl mit Dr. Nawaz auf dem Weg nach oben hatte ich noch befürchtet, beim Anblick Suhrabs wieder weinen zu müssen. Doch jetzt, da ich auf dem Stuhl am Fußende seines Bettes Platz nehme und hinter einem Wust von schimmernden Infusionsschläuchen und Drainagen sein bleiches Gesicht entdecke, bleiben meine Augen
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