Drachenläufer
nicht. Hassan würde verstehen, dass ich einfach nervös war. Hassan verstand immer alles, was mich betraf.
Oben in Babas Badezimmer hörte ich das Wasser laufen.
Der frisch gefallene Schnee glitzerte auf den Straßen, und der Himmel war makellos blau. Der Schnee bedeckte jedes Dach und lastete auf den Zweigen der verkümmerten
Maulbeerbäume, die unsere Straße säumten. Über Nacht war der Schnee in alle Ritzen und Spalten gedrungen. Ich schaute blinzelnd in das blendende Weiß, als Hassan und ich durch das schmiedeeiserne Tor traten. Ali schloss das Tor hinter uns. Ich hörte, wie er leise ein Gebet sprach - das tat er immer, wenn sein Sohn das Haus verließ.
Ich hatte noch nie so viele Menschen in unserer Straße gesehen. Kinder warfen Schneebälle, zankten sich, jagten hintereinander her, kicherten. Drachenkämpfer und ihre Helfer steckten die Köpfe zusammen, trafen letzte Vorbereitungen. Aus angrenzenden Straßen vernahm ich Lachen und Geplapper. Die Dächer waren schon voller Zuschauer, die es sich auf Gartenstühlen bequem gemacht hatten. Heißer Tee dampfte aus Thermoskannen, und die Musik von Ahmad Zahir plärrte aus den Kassettenrecordern. Der unglaublich populäre Ahmad Zahir hatte die afghanische Musik revolutioniert und die Puristen empört, weil er den traditionellen Musikinstrumenten tabla und Harmonium elektrische Gitarren, Schlagzeug und Bläser hinzugefügt hatte; auf der Bühne oder auf Partys setzte er sich über die vorgeschriebene strenge, ja abweisende Haltung der älteren Sänger hinweg und lächelte doch tatsächlich beim Singen - lächelte manchmal sogar Frauen zu. Ich wandte meinen Blick zu unserem Dach und entdeckte dort oben Baba und Rahim Khan, die in dicke Wollpullover gekleidet auf einer Bank saßen und Tee tranken. Baba winkte. Ich konnte nicht erkennen, ob es mir oder Hassan galt.
»Wir sollten uns bereitmachen«, sagte Hassan. Er trug schwarze Schneestiefel aus Gummi, einen leuchtend grünen chapan-Umhan g über einem dicken Pullover und abgewetzte Cordhosen. Sonnenlicht ergoss sich über sein Gesicht, und ich sah, wie gut die rosafarbene Narbe über seiner Lippe verheilt war.
Plötzlich wäre ich am liebsten gar nicht erst angetreten. Hätte am liebsten alles wieder eingepackt, um nach Hause zurückzukehren. Was hatte ich mir bloß dabei gedacht? Warum tat ich mir das an, wo ich doch bereits wusste, wie es ausgehen würde? Baba saß auf dem Dach, beobachtete mich. Ich fühlte, wie mich sein sengend heißer Blick traf. Das hier würde selbst für meine Verhältnisse ein Versagen auf der ganzen Linie bedeuten.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich heute Drachen steigen lassen möchte«, erklärte ich.
»Aber es ist doch ein wunderschöner Tag«, entgegnete Hassan.
Ich trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Versuchte, meinen Blick von unserem Dach abzuwenden. »Ich weiß nicht so recht. Vielleicht sollten wir besser wieder nach Hause gehen.«
Er trat auf mich zu und sagte mit leiser Stimme etwas, das mir ein wenig Angst einjagte: »Vergiss nicht, Amir Aga. Es gibt kein Ungeheuer, bloß einen wunderschönen Tag.« Wie konnte ich nur solch ein offenes Buch für ihn sein, wenn ich selbst die meiste Zeit keine Ahnung hatte, was in seinem Kopf vor sich ging? Ich war doch derjenige, der die Schule besuchte, der lesen und schreiben konnte. Ich war der Kluge. Hassan konnte nicht einmal mit einem Lesebuch der ersten Klasse etwas anfangen, aber mich hatte er durchschaut. Es war beunruhigend, aber in gewisser Weise auch bequem, jemanden zu haben, der immer wusste, was man gerade brauchte.
»Kein Ungeheuer«, sagte ich und fühlte mich zu meiner Überraschung etwas besser. Er lächelte. »Kein Ungeheuer.« »Bist du dir auch ganz sicher?« Er schloss die Augen. Nickte.
Ich blickte zu den Kindern hinüber, die auf der Straße herumtollten, Schneebälle warfen. »Es ist wirklich ein wunderschöner Tag, nicht wahr?« »Lass uns Drachen jagen«, sagte er.
Mir kam der Gedanke, dass Hassan seinen Traum erfunden haben könnte. War das möglich? Nein, eigentlich nicht. Dazu war Hassan nicht klug genug. Und ich auch nicht. Aber ob erfunden oder nicht, der alberne Traum hatte mir etwas von meiner Angst genommen. Vielleicht sollte ich wirklich mein Hemd ausziehen und eine Runde im See schwimmen. Warum nicht?
»Ja, lass uns Drachen jagen«, sagte ich.
Hassans Miene hellte sich auf. »Gut«, sagte er. Er hob unseren Drachen in die Höhe. Er war rot mit einem gelben Rand, und direkt unter
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