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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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lieferte mir einen Vorwand, um stundenlang in meinem Zimmer sitzen zu können. Und für eine Weile lenkte sie mich von dem ab, was in jenem Winter geschehen war - was ich hatte geschehen lassen. Einige Wochen lang beschäftigte ich mich mit Schwerkraft und Bewegungsenergie, mit Atomen und Elementen, den Kriegen zwischen Engländern und Afghanen, statt über Hassan und das, was mit ihm geschehen war, nachzudenken. Aber meine Gedanken kehrten immer wieder zu jener Gasse zurück. Zu Hassans brauner Cordhose, die auf den Ziegelsteinen liegt. Zu den Blutstropfen, die den Schnee dunkelrot, beinahe schwarz färben.
    An einem trägen, diesigen Sommernachmittag bat ich Hassan, mit mir auf den Hügel zu gehen. Sagte ihm, ich wolle ihm eine neue Geschichte vorlesen, die ich geschrieben hatte. Er hängte gerade im Garten die Wäsche zum Trocknen auf, und ich erkannte seinen Eifer an der Hast, mit der er die Arbeit zu Ende brachte.
    Wir stiegen den Hügel hinauf und plauderten über Belanglosigkeiten. Er fragte mich nach der Schule, was ich so lernte, und ich redete über meine Lehrer, besonders über den gemeinen Mathematiklehrer, der Schüler, die sich im Unterricht unterhielten, damit bestrafte, dass er ihnen eine Metallstange zwischen die Finger steckte und die Finger dann fest zusammendrückte. Hassan zuckte zusammen, als er das hörte, und sagte, er hoffe, dass ich diese Erfahrung noch niemals hatte machen müssen. Ich erwiderte ihm, dass ich bisher Glück gehabt hätte, obwohl ich wusste, dass Glück gar nichts damit zu tun hatte. Ich hatte mich oft genug während des Unterrichts unterhalten. Aber mein Vater war reich, und jeder kannte ihn, also wurde mir die Behandlung mit der Metallstange erspart.
    Wir setzten uns in den Schatten des Granatapfelbaums, lehnten uns mit dem Rücken an die niedrige Friedhofsmauer. In einem Monat oder auch zwei würde lauter von der Sonne verbranntes, vergilbtes Gras den Abhang überziehen, aber in jenem Jahr hatten die Regenfälle des Frühjahrs länger als gewöhnlich gedauert, hatten sich bis in den Frühsommer hinein erstreckt, und das Gras war noch immer grün und mit einem Gewirr von Wildpflanzen durchzogen. Unter uns schimmerten die Häuser des Wazir-Akbar-Khan-Viertels mit ihren weißen Mauern und den flachen Dächern in der Sonne. Wäschestücke hingen an Leinen in den Gärten und tanzten vom Wind beseelt wie Schmetterlinge.
    Wir hatten ein Dutzend Granatäpfel vom Baum gepflückt. Ich faltete die Geschichte auseinander, die ich mitgebracht hatte, wandte mich der ersten Seite zu, legte die Blätter dann aber wieder weg, stand auf und griff mir einen überreifen Granatapfel, der zu Boden gefallen war.
    »Was würdest du machen, wenn ich dich damit bewerfen würde?«, fragte ich und warf die Frucht einige Male kurz in die Höhe.
    Hassans Lächeln erstarb. Er sah älter aus, als ich in Erinnerung hatte. Nein, nicht älter, alt. War das möglich? Tiefe Furchen hatten sich in sein gebräuntes Gesicht gegraben, und um Augen und Mund herum hatten sich Falten gebildet. Ich hätte diese Furchen genauso gut selbst mit einem Messer in seine Haut ritzen können. »Was würdest du machen?«, wiederholte ich.
    Die Farbe wich aus seinem Gesicht. Neben ihm begannen die mit einer Heftklammer zusammengehaltenen Seiten der Geschichte, die ich vorzulesen versprochen hatte, in der Brise zu flattern. Ich schleuderte den Granatapfel in seine Richtung. Ich traf ihn mitten auf der Brust, der Apfel zerplatzte zu einem spritzenden roten Brei. In Hassans Schrei schwangen Überraschung und Schmerz mit.
    »Wehr dich! Bewirf mich auch!«, fuhr ich ihn an. Hassan blickte von dem Fleck auf seiner Brust zu mir.
    »Steh auf! Wirf.«, sagte ich. Hassan stand tatsächlich auf, aber er blieb einfach stehen und sah benommen drein wie ein Mann, den das zurückströmende Wasser ins Meer gezogen hat, wo er doch einen Augenblick zuvor noch fröhlich am Strand entlangspaziert ist.
    Ich bewarf ihn mit einem weiteren Granatapfel, traf ihn dieses Mal an der Schulter. Der Saft spritzte ihm ins Gesicht. »Wirf schon zurück!«, fauchte ich. »Wirf, verdammt noch mal!« Wenn er es doch nur tun würde! Wenn er mir doch nur endlich die Bestrafung zukommen lassen würde, nach der ich mich so sehnte, dann könnte ich nachts vielleicht endlich wieder schlafen. Und es würde zwischen uns vielleicht auch wieder so sein, wie es früher gewesen war. Aber Hassan reagierte nicht, egal, wie viele Früchte ich auch nach ihm schleuderte. »Du

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