Drachenläufer
betrachtet, verkörperte er den Sohn, von dem alle Eltern träumten: ein kräftiger, großer, anständig gekleideter Junge mit guten Manieren, Talent und einem attraktiven Aussehen - nicht zu vergessen die nötige Schlagfertigkeit, der es bedurfte, um mit einem Erwachsenen zu scherzen. Aber wenn ich ihn anblickte, verrieten ihn seine Augen. Wenn ich in sie hineinsah, bröckelte die Fassade und gab für einen Moment den Blick auf den Wahnsinn frei, der dahinter verborgen lag.
»Willst du es denn nicht annehmen, Amir?«, sagte Baba.
»Wie?«
»Dein Geschenk, das Assef jan dir mitgebracht hat«, sagte Baba gereizt. »Willst du es nicht annehmen?«
»Oh«, sagte ich. Ich nahm das Päckchen aus Assefs Händen entgegen und senkte den Blick. Wenn ich doch nur allein in meinem Zimmer hätte sein können, umgeben von meinen Büchern und weit weg von diesen Leuten!
»Nun?«, sagte Baba.
»Was denn?«
Baba sprach mit einer leisen Stimme, die er immer dann benutzte, wenn ich ihn in der Öffentlichkeit blamierte. »Willst du dich denn nicht bei Assef jan bedanken? Das war doch sehr aufmerksam von ihm.«
Wenn Baba doch nur aufhören würde, ihn so zu nennen. Wie oft hatte er mich bisher Amir jan genannt? »Danke«, sagte ich. Assefs Mutter blickte mich an, als wollte sie etwas sagen, tat es dann aber doch nicht, und mir wurde bewusst, dass keiner von Assefs Eltern bisher auch nur ein einziges Wort gesprochen hatte. Bevor ich Baba und mich noch weiter in Verlegenheit bringen konnte - aber eigentlich doch mehr, um Assef und seinem Grinsen zu entgehen -, wich ich zurück. »Danke fürs Kommen«, sagte ich.
Ich schlängelte mich durch die Gästemenge und schlüpfte durch das schmiedeeiserne Tor. Zwei Häuser die Straße hinunter gab es ein großes unbebautes Grundstück. Ich hatte gehört, wie Baba Rahim Khan erzählte, dass ein Richter das Land gekauft habe und ein Architekt an den Plänen für ein Haus arbeite. Aber im Augenblick war das Grundstück noch leer, abgesehen von Erde, Steinen und Unkraut. Ich riss das Papier von Assefs Geschenk auf und hielt den Titel ins Mondlicht. Es war ein Buch über Hitler. Ich warf es ins Gestrüpp.
Dann lehnte ich mich an die Mauer des Nachbarn und ließ mich an ihr zu Boden gleiten. Dort saß ich eine ganze Weile in der Dunkelheit, die Knie an die Brust gezogen, blickte zu den Sternen hinauf und wartete, dass die Nacht zu Ende ginge.
»Solltest du nicht deine Gäste unterhalten?«, sagte eine vertraute Stimme. Rahim Khan schritt an der Mauer entlang auf mich zu.
»Dafür brauchen sie mich doch nicht. Baba ist da, schon vergessen?«, erwiderte ich. Das Eis in Rahim Khans Drink klirrte, als er sich neben mich setzte. »Ich wusste ja gar nicht, dass du Alkohol trinkst.«
»Jetzt weißt du es«, erwiderte er. Stieß mir munter den Ellbogen in die Seite. »Aber nur zu den ganz wichtigen Gelegenheiten.«
Ich lächelte. »Danke.«
Er neigte das Glas in meine Richtung und nahm einen Schluck. Dann zündete er sich eine Zigarette an, eine von den pakistanischen ohne Filter, die Baba und er immer rauchten. »Habe ich dir eigentlich schon erzählt, dass ich einmal fast geheiratet hätte?«
»Wirklich?«, fragte ich und musste bei der Vorstellung eines verheirateten Rahim Khan unwillkürlich lächeln. Ich hatte ihn immer für Babas stilles Alter Ego gehalten, für meinen Mentor, meinen Freund, der niemals vergaß, mir ein Souvenir, ein saughat, mitzubringen, wenn er von einer Auslandsreise zurückkam. Aber ein Ehemann? Ein Vater?
Er nickte. »Ja, wirklich. Ich war achtzehn. Ihr Name lautete Homaira. Sie war eine Hazara, die Tochter der Dienstboten unseres Nachbarn. Sie war so wunderschön wie ein pari, ein Engel, mit hellbraunem Haar, großen, haselnussbraunen Augen ... und sie hatte so ein Lachen ... Ich kann es manchmal heute noch hören.« Er schwenkte sein Glas. »Wir haben uns immer heimlich im Obstgarten meines Vaters getroffen, immer nach Mitternacht, wenn alle schon schliefen. Dann sind wir unter den Bäumen entlangspaziert, und ich habe ihre Hand gehalten ... Mache ich dich verlegen, Amir jan?«
»Ein bisschen«, gab ich zu.
»Es wird dich nicht umbringen«, erwiderte er und paffte an seiner Zigarette. »Also, wir hatten uns unser Leben so schön ausgemalt. Wir träumten von einer großartigen, wundervollen Hochzeit, zu der wir unsere Familien und Freunde von Kabul bis Kandahar einladen wollten. Wir träumten davon, Obstbäume im Garten zu pflanzen und alle möglichen Blumen, von
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