Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
besonders schlecht?«
»Hmm«, meinte Raistlin nachdenklich. »Wahrscheinlich gut.
Er hörte sich glücklich an.« Seine ältere Schwester fing an, sich
die Stiefel anzuziehen. »Allerdings, bei braunen Vögeln«,
setzte er dozierend an, »da weiß man nie so recht. Die finden
jeden Tag besonders. Sind leicht zu beeinflussen.«
»Optimisten«, sagte Kit trocken. »Mhm«, stimmte Raistlin
zu.
Sie musterte ihn kurz und kritisch. Sein Gesichtsausdruck
war eindeutig raffiniert, fast engelhaft. Nun, Raistlin war der
phantasievollere Zwilling.
Gähnend griff sie nach ihrer Tunika und zog sie über den
Kopf. Caramon – das war der Berechenbare. Wenn der einen
braunen Vogel sah, würde er nicht versuchen, mit ihm zu
reden. Er würde versuchen, ihn mit einem Netz zu fangen oder
mit einem Stein zu treffen. Wenn es irgendwo laut und wild
zuging, wußte man, wo Caramon war.
Sie war todmüde, nachdem sie fast fünf Jahre lang hinter den
Zwillingen hergerannt war, sich um sie gekümmert und gesorgt
und so gut wie möglich erzogen hatte – sie war praktisch ihre
Mutter gewesen. Jetzt kam es Kitiara so vor, als brauchte sie
einen ganzen Monat Schlaf. Ihr Körper rebellierte, und ihr
Geist war oft wie benebelt. Sie haßte den Gedanken daran, wie
sie sich nach fünf weiteren Jahren mit solchen Pflichten fühlen
würde.
Ihre Mutter hatte sich von der traumatischen Geburt der
Zwillinge nie wieder richtig erholt. Rein körperlich schien
Rosamund eigentlich nichts zu fehlen, doch sie war mehr im
Bett als auf. Seit fünf Jahren aß sie wenig und war nur noch
Haut und Knochen. Ihr blaßblondes Haar war gespenstisch
weiß geworden. In Rosamunds eingefallenem Gesicht lagen
riesige, unheimliche, graue Augen, die in eine unbestimmte
Ferne schauten, jenseits dieser Welt.
Nach der Geburt der Zwillinge hatte Yarly Rosamund eine
kurze Weile versorgt. Aber Yarly war unerfahrener und noch
weniger entgegenkommend als ihre Schwester Minna. Schon
bald fand sogar Gilon sie lästig. Sie schuldeten den beiden
Hebammenschwestern noch immer eine Stange Geld, und es
verging keine Woche, wo Minna nicht vorbeischaute, um das
zu erwähnen. Der gutmütige Gilon stotterte die Schuld ganz
allmählich ab.
Yarly hatte jedenfalls nicht viel tun können, um Rosamunds
geheimnisvolles Leiden zu lindern. Darum behalf sich die
Familie jetzt seit langem mit den Mittelchen des Heilers von
Solace, einem dicken, vertrauenswürdigen Mann mit
stinkendem Atem.
Dieser Mann, Bigardus, kannte Rosamund schon viele Jahre
und schien sie wirklich gern zu haben. Als einfacher – Kit
neigte zu der Einschätzung »einfältiger«
– Heiler hatte er
nichts von Minnas Hochmut oder ihren Ansprüchen, was
»unerläßlich« war. Er gab zu, daß er keine Ahnung hatte, was
Rosamund fehlte, und prahlte nicht mit Allheilmitteln. Aber er
versorgte die Familie Majere mit diversen Beuteln und
Gläschen mit exotischen Mittelchen, die auf einem kleinen
Regal neben Rosamunds Bett aufgereiht standen. Sie schienen
ihre wiederkehrenden Schmerzen zu lindern. Hin und wieder
kam Bigardus vorbei, um nach Rosamund zu sehen oder einen
ihrer Anfälle zu beobachten. Kit mochte ihn. Sie hätte fast
sagen können, daß sie sich auf seine unterhaltsamen Besuche
freute.
Rosamund konnte monatelang am Rande des Halbschlafs
verbringen. Zeitweise wirkte sie fast heiter, wenn sie mit ihren
großen Augen alles so ruhig betrachtete, daß man fast vergaß,
daß sie da war. Manchmal überraschte sie alle, indem sie sich
plötzlich im Bett aufsetzte und die Zwillinge zu sich rief, um
ihnen eine Geschichte zu erzählen. So begannen gewöhnlich
die seltenen Abschnitte, in denen Rosamund fast normal
erschien. Vielleicht stand sie sogar auf, um ihre
Sonnenblumenbrötchen zu backen, die Caramon und Raistlin
liebten. Mitunter traute sie sich sogar zum Einkaufen oder
zu
einem Spaziergang in den Wald, jedoch nur, solange Gilon bei
ihr war.
Während dieser scheinbar normalen Zeiten widmete
Rosamund den größten Teil ihrer kostbaren Kraft den
Zwillingen und Gilon. Selten – Kitiara war sicher, daß sie die
Male an einer Hand abzählen konnte – verbrachte Rosamund
Zeit mit ihrer Tochter. Es war, als wäre sie unsicher, wie sie
sich diesem unabhängigen Mädchen gegenüber verhalten
sollte, das die meiste Zeit als Ersatzmutter des Hauses auftrat.
Zuerst war Kit wegen der scheinbaren Gleichgültigkeit ihrer
Mutter verletzt gewesen, doch das hatte sich inzwischen gelegt.
Rosamunds wache Augenblicke endeten ohne
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