Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
war
tränenüberströmt. Nachdem auch Caramon hochgeschaut hatte,
sah er ein kleines Kätzchen in den Zweigen ganz oben im
Baum hocken.
»Mein Kätzchen!« klagte das Mädchen und zeigte für
Caramon nach oben. »Mein Kätzchen sitzt da oben im Baum
fest!«
Caramon sah wieder stirnrunzelnd nach oben. Er war
schrecklich müde, und der Baum sah schrecklich hoch aus.
»Es ist so ein hoher Baum«, fuhr das Mädchen fort, das sich
umdrehte, um Caramon besser flehend ansehen zu können.
»Ich würde ja selbst hochklettern, aber ich komm’ nicht an die
ersten Zweige dran. Mein Kater heißt Zirke. Ich fürchte, er sitzt
da oben für immer fest.« Sie begann zu weinen und schluchzte
und schniefte. Caramon stand verlegen neben ihr, weil er sie
trösten wollte, aber nicht wußte, was er machen sollte.
»Du siehst aus, als wenn du gut klettern kannst. Glaubst du,
du kannst ihn runterholen?«
Angesichts ihres Bettelblicks warf sich Caramon leicht in die
Brust und vergaß vorläufig Hunger und Müdigkeit. Wieder sah
er zu dem maunzenden Kätzchen hoch. Dann zog er sich
mannhaft die Hosen zurecht, griff fest nach einem der unteren
Äste und begann hinaufzuklettern.
Nachdem Kitiara und Gilon gegangen waren, folgte der
Zaubermeister Raistlin in den kleinen, spartanischen Anbau
und wies ihn an, sich auf einen der Stühle zu setzen. Dann rief
Morat einen jungen Mann in einfachen Arbeitskleidern her,
dem er erklärte, daß der Zaubermeister den Vormittag über
nicht gestört werden dürfe. Der Mann – anscheinend eine Art
Diener – nickte und ging, wobei er die Tür zur Bibliothek
hinter sich zumachte.
Hinter dieser Tür vernahm Raistlin hin und wieder das leise
Kommen und Gehen von Morats Schülern, die Zugang zu den
Schätzen der Bibliothek hatten. Ihre Gespräche fanden im
Flüsterton statt. Zweifellos waren sie nicht gerade darauf aus,
den Zaubermeister zu stören. Raistlin nahm an, daß das meiste
Lernen in den Räumen entlang des langen Korridors stattfand.
Der Raum, in dem sich Morat und Raistlin aufhielten, war
völlig unauffällig. Kalksteinwände ohne Fenster, Farbe oder
Wandschmuck. Selbst Klein-Raist begriff, daß es darum ging,
möglichst jede Ablenkung auszuschalten, um eine bessere
Konzentration zu erreichen. Morat befragte ihn mehrere
Stunden lang bis in den frühen Nachmittag hinein. Er fragte
nicht gerade Wissen ab, sondern eher philosophische Dinge,
was die Antworten nicht leichter machte.
Vielleicht gab es auch keine richtigen Antworten.
Auf jeden Fall schien Morats Interesse an Raists Reaktion
auf die Fragen fast ebenso groß zu sein, wie sein Interesse an
der möglicherweise richtigen Antwort. Die schwarzen Augen
des Zaubermeisters durchbohrten den kleinen Jungen
gnadenlos. Raistlin, der kein Mittagessen bekommen hatte,
wurde regelrecht schwindelig vor Hunger, aber er kämpfte
darum, hellwach zu bleiben.
»Dafür, daß du bloß ein Kind bist, sagst du schlaue Dinge«,
gab Morat irgendwann einmal widerwillig zu, »aber laß uns
noch ein wenig über Gut und Böse reden. Ein Zauberer muß
beides lernen und verstehen. Nicht nur das Offensichtliche –
die Unterschiede –, sondern auch das Ähnliche. Was ist beiden
gemeinsam? Wie würdest du, Raistlin, das Böse beschreiben?«
Jeder andere Sechsjährige hätte sich bei einer solchen
Fragestellung bestimmt verwirrt am Kopf gekratzt. Doch Raist
war ein Einzelgänger, der körperlich nicht der kräftigste war
und wenig Spielkameraden hatte, so daß er viele Stunden allein
verbracht hatte, in denen er über genau solche Dinge hatte
nachdenken können. Besonders seit dem letzten Jahr, als er auf
dem Markt des Roten Mondes zum ersten Mal ein bißchen
einfache Zauberei gelernt hatte.
Zuerst hatte sich der kleine Junge vorgestellt, er würde ein
guter Zauberer werden, der Banditen und wildgewordene
Unholde bekämpfte, indem er seinen Kopf und seine Begabung
genauso leicht benutzte wie Caramon die körperliche
Geschicklichkeit, die ihn zum geborenen Kämpfer machte.
Zauberer, die sich der Neutralität verschrieben, faszinierten
Raistlin, obwohl er bis jetzt wenig über sie wußte. Und über
das Böse als Feind des Guten hatte er schon viel gehört.
»Ich glaube, es wäre ein Fehler, das Böse zu genau oder zu
einfach zu definieren«, erklärte Raistlin nachdenklich. Trotz
seiner Bemühungen klang seine Stimme dünn und müde.
»Aber was es auch ist, es ist das Gegenteil vom Guten. Um es
also zu kennen, müssen wir auch das Gute kennen.«
»Eine
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