Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
die Gelegenheit nutzte, um
keuchend eine Pause einzulegen. »Komm mit!«
»Au ja! Aber laß deinen schlappen Bruder hier!« fügte ein
anderer hinzu, der rutschend zum Stehen kam und fast den
ersten über den Haufen gerannt hätte.
Caramon kletterte die Strickleiter hoch, um nach Rosamund
zu sehen. Er fand sie auf der kleinen Veranda vor der Hütte
sitzen, wo sie neben einem Stapel Kleider die Sonne genoß,
während sie ein Kleid säumte. Mit einem Lächeln auf dem
Gesicht winkte ihm seine Mutter sorglos zu, daß er ruhig gehen
sollte.
Eilig rannte er der Bande Jungs hinterher, die sich etwa zehn
Minuten von Caramons Haus entfernt bei einer kleinen
Baumgruppe versammelt hatten. An den tief
herunterhängenden Zweigen hingen kleine, feste, grüne
Holzäpfel, die die Jungen zu Dutzenden pflückten und auf dem
Boden zu Stapeln aufschichteten. Mit dieser »Munition«
stopften sie sich Taschen, Beutel und Rucksäcke voll und
trugen darüber hinaus so viele wie möglich in jeder Hand.
»Da bist du ja, Caramon. Mach schnell! Du bist unser
Anführer«, schrie eine Gruppe der Jungen. Sie hatten sich
bereits in zwei Armeen aufgeteilt.
Caramon, der
– im Gegensatz zu seinem Zwillingsbruder –
sehr beliebt und bei Kriegsspielen sehr gefürchtet war, wurde
zum »General« gewählt, obwohl mehrere Acht- und sogar
Zehnjährige in Betracht kamen. Der andere General, ein
breitschultriger Zehnjähriger namens Ranelag, war volle zwei
Köpfe größer als Caramon.
Nachdem sie an entgegengesetzten Enden des
Holzapfelwäldchens Stellung bezogen hatten, stürmten die
gegnerischen Parteien beim vereinbarten Zeichen aufeinander
los. Caramon rannte kreischend vor seiner Armee her, die etwa
ein halbes Dutzend Jungen zählte, und kommandierte sie
herum.
»Willem, du läufst da lang. Lank, paß auf, was hinter dir los
ist. Wolf, nimm ein paar Holzäpfel und kletter auf den Baum
da.«
Er führte den Angriff an und warf die kleinen Äpfel, so
schnell und fest er konnte. Caramon traf gut, und er wich
geschickt dem Apfelhagel aus, der ihm
entgegengeprasselt
kam. Der Sinn des Spiels war, so viele Treffer wie möglich zu
erzielen und sich dann zurückzuziehen, bevor man an die
Schulter, am Schienbein oder – noch schlimmer – am Schädel
angeschlagen wurde. Es war kein Spiel für Muttersöhnchen.
Der Holzapfelkrieg zog sich fast den ganzen Nachmittag hin.
Hin und wieder mußte einer die Seite wechseln, weil ein
anderer nach Hause mußte, und hin und wieder gab es Pausen,
in denen sich alle ausstreckten und in die sauren Früchte
bissen. Doch die meiste Zeit hieß es Angriff und Rückzug,
Angriff und Rückzug, Angriff und Rückzug, immer wieder, bis
die Sonne unterging.
Caramon hatte sich als fähiger, mutiger Taktiker erwiesen.
Er konnte mehr Beulen und blaue Flecken von gut gezielten
Holzäpfeln vorweisen als die anderen, ganz zu schweigen von
den Fruchtfleischresten und den Saftflecken. Während der
Pausen hatte der Anführer ein paar Holzäpfel zuviel
verschlungen, so daß er leichtes Bauchgrimmen hatte.
Er und Ranelag, der einem von Caramons besten Würfen
eine deutlich sichtbare, blutige Beule auf der Stirn zu
verdanken hatte, erklärten den Krieg für unentschieden. Zum
Zeichen des Waffenstillstands schüttelten sie sich die Hand.
»Das war ein guter Kampf. Auf daß wir eines Tages wieder
gegeneinander kämpfen«, sagte Caramon mit dem Ernst, den
ein echter Krieger seiner Meinung nach verspüren mußte, wenn
ein heftiger Zweikampf zu Ende ging. Dann stieß er einen
Juchzer aus, was ihm lauten Jubel von den Überlebenden
beider Seiten einbrachte.
Es war schon fast Abendbrotzeit, und Caramon bemühte
sich, halb hüpfend, halb rennend, schnellstens nach Hause zu
kommen. Er war ausgepumpt und voller Blessuren und
verspürte, ehrlich gesagt, schon wieder leichten Hunger. Seine
Kleider waren zerrissen, die goldbraunen Haare klebten ihm an
der Stirn. Angetrockneter Teig, Dreck, Holzapfelstückchen,
Kratzer, Risse und lila Beulen erzählten von seinem
ereignisreichen Tag.
Als Caramon in Sichtweite der hohen Vallenholzbäume, auf
denen sein Zuhause stand, um eine Ecke bog, hörte er einen
Hilfeschrei. Augenblicklich dachte er an seine Mutter, aber der
Schrei kam aus der anderen Richtung, von einer niedrigeren
Baumgruppe, nicht aus der Hütte.
Als er hinlief, sah er ein Mädchen in seinem Alter, das
dastand und in die höheren Äste eines Baums blickte. Sie war
niedlich und hatte kleine Grübchen, aber ihr Gesicht
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