Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
und spürte plötzlich eine
ungeheuere Aufregung.
Sein Herz klopfte wie wild. Diese wundervolle Bibliothek,
die so anders war als alles, was er aus Solace kannte – wie sehr
es ihn drängte, all diese Bücher zu lesen und hier die alten
Künste zu lernen! Raistlin starrte die Bücher so verlangend an
wie andere Kinder Süßigkeiten.
Morat zeigte auf einen Stuhl. Dann ging er zu einem Regal
und suchte mehrere Bände heraus, von denen er drei vor Raist
hinlegte. Einen anderen, in Leder gebundenen Band legte er
gegenüber von Raist neben seinen eigenen Stuhl.
»Öffne das Buch mit der Goldprägung und schlag Seite
fünfundzwanzig auf.«
Raistlin sah enttäuscht, daß das fragliche Buch anscheinend
grundlegende mathematische Gleichungen enthielt.
Pflichtbewußt begann er zu lesen. Die Minuten zogen sich
hin. Morat sagte nichts, sondern saß nur dem Jungen gegenüber
und beobachtete ihn genau. Während Raist über die Seiten
hinwegflog, schien der Zaubermeister fast zu dösen.
Sein Blick war jedenfalls ausgesprochen verhangen.
Ein leises Klopfen an der Tür riß Morat aus seinen
Tagträumen. Unwirsch vor sich hinmurmelnd, stand der
Zaubermeister auf und ließ den Klopfenden ein. Die Tür ging
auf, doch Raist war sich wieder nicht sicher, ob sie nun
mechanisch oder magisch funktionierte. Auf jeden Fall sollte
das dem Jungen egal sein. Er hatte zu lesen, also waren alle
seine Blicke nutzlos.
Ein dicker Junge in Kitiaras Alter, der die graue Robe eines
Zauberlehrlings trug, kam herein. Anscheinend einer der
Schüler, denn er schien große Ehrfurcht vor dem
Zaubermeister zu haben, während er um die rechten Worte
rang.
»Meister«, fing der Junge zögernd an. »Alekno hat, ähem,
Probleme mit dem Unsichtbarkeitszauber. Er konnte
seine
Beine verschwinden lassen, aber das ist leider auch alles. Jetzt
sieht es so aus, als wenn er sie nicht wieder zurückzaubern
kann. Wir haben versucht, ihm zu helfen, aber wir kriegen
nicht raus, was er falsch macht. Würdet Ihr es uns bitte sagen?«
»Alekno paßt nie richtig auf, wenn man ihm etwas sagt, und
dann kommt genau so etwas dabei heraus. Am liebsten würde
ich ihn mal für ein, zwei Tage halb unsichtbar lassen. Das wird
ihn lehren, nächstes Mal besser zuzuhören.«
Der dicke Junge trat unruhig von einem Bein aufs andere,
weil er nicht wußte, was er darauf erwidern sollte. Auf seinem
Gesicht lag ein flehender Ausdruck.
»Na schön«, meinte Morat wütend. Er stand auf und ging
murrend und schimpfend zur Tür. Auf der Schwelle drehte er
sich zu Raist um. »Mach weiter. Ich bin bald zurück.«
Raistlin las weiter, wie man es ihm gesagt hatte. Fleißig
blätterte der Junge die Seiten um, las von links nach rechts und
von oben nach unten, immer mit dem Finger auf den Zeilen,
und gab sich größte Mühe, die ganzen Tabellen zu verstehen
und sich einzuprägen. Es waren mathematische Grundlagen
und Maßeinheiten, aber auch komplizierte Gleichungen,
Winkel und Grade und Teilungen. Raistlin las fast eine Stunde
lang weiter, doch der Zaubermeister war immer noch nicht
zurückgekehrt.
All die Übungen machten den Jungen schläfrig. Für
bestimmte Zauber und Situationen würde es wohl hilfreich
sein, etwas von Zahlen zu verstehen, aber Raist mußte gähnen,
als er die letzte Seite des Buches umblätterte und den
vergoldeten Einband schloß.
Immer noch keine Spur von Morat und kein Ton hinter der
Bibliothekstür, durch die er verschwunden war. Die
Spätnachmittagssonne, die von oben hereindrang, war nicht
mehr so hell, und das Licht in der Bibliothek war fahl und
gelblich geworden. Zusammen mit der Stille hatte das eine
richtig unheimliche Wirkung.
Seufzend griff Raistlin nach einem der anderen beiden,
Bücher, die der Zaubermeister ihm herausgelegt hatte, dem mit
dem abgegriffenen Einband und den krümelnden Seiten. Sofort
erkannte er, daß es sich um ein Geographiebuch handelte. Es
war voller detaillierter Karten von den vielen bekannten und
auch weniger bekannten Teilen von Ansalon. Es gab grobe
Klimakarten und Hinweise auf Bodenbeschaffenheit und
Höhen, alles ganz exakt von Hand gezeichnet und farbig
ausgemalt.
Obwohl dieses Buch lange nicht so dick war wie das
Zahlenbuch, war auch dies harte Arbeit, und Raist blätterte die
Seiten mit der Zeit immer langsamer um, doch der
Zaubermeister kam immer noch nicht zurück. Nach einer
weiteren Stunde hatte Raistlin das zweite Buch zu Ende
gelesen. Raist sah sich in dem jetzt dämmrigen Zimmer um
und griff pflichtbewußt nach dem
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