Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
dritten und letzten Buch vor
sich.
Dieses hatte einen schweren Rindsledereinband mit
Eisenbeschlägen, so daß Raist beide Hände nehmen mußte, um
es aufzuschlagen. Das Pergament der Seiten war sehr dünn und
von zarter Struktur und erzählte in winziger, eleganter Schrift
die frühe Geschichte der Silvanesti-Nation. Kalligraphien
bedeckten die Seitenränder, und die lange, detaillierte Chronik
war auf jeder Seite in drei gleichlange Spalten geteilt.
Der kleine Junge, dem langsam die Augen zufielen, begann,
die alte Geschichte zu lesen. Doch sein Interesse wuchs, je
weiter er kam.
Er wußte nicht viel von der tragischen Geschichte der
Elfenrasse, und es waren wirklich nicht so viele Seiten. Aber
die Schrift war so winzig und die Tinte so verblichen, daß er in
dem nachlassenden Licht seine Augen sehr anstrengen mußte.
Es dauerte nicht lange, bis ihm der Kopf auf den Tisch sank. Er
war eingeschlafen.
Feuchter, klebriger Nebel umwaberte Raistlins Stuhl. Er war
nicht mehr in der Bibliothek. Gerade außer Hörweite von ihm
schienen Stimme zuflüstern. Plötzlich erschien seine Mutter.
»Komm mit, mein Schatz«, lud ihn Rosamund ein. »Ich werde
dich führen.«
Der junge griff eifrig nach ihrer ausgestreckten Hand. In dem
Moment, wo sich ihre Finger berührten, verwandelte sich
Rosamund jedoch in ein schreckliches, schleimiges Wesen, das
Raistlin mit unwiderstehlicher Gewalt an seine Brust zog. Er
geriet in Panik, denn er wurde von Geifer eingehüllt.
Verzweifelt kämpfte er gegen das Erstickungsgefühl, rang nach
Luft, schluckte aber immer wieder einen Mundvoll von dem
ekelerregenden Zeug. Er ertrank in Schleim!
Ebenso plötzlich war der Spuk vorbei. Jetzt war Raistlin
wieder zu Hause und hockte auf dem Bett seiner Mutter. Nein,
eigentlich teilte er ihren Körper, sah mit ihren Augen, atmete
ihre zitternde Atmung.
Kitiara bereitete das Abendessen zu. Caramon warf müßig
Zweige ins Feuer. Gilon kam herein. Doch es war gar nicht
Gilon. Dieses Wesen hatte Hörner und einen riesigen Kopf. Es
überragte Kitiara, streifte die Decke. Ein Minotaurus, erkannte
Raist erschauernd.
Der Minotaurus stürmte zu Rosamund hinüber.
Sie schrie und versuchte, den Tiermenschen abzuwehren, der
sie – und Raist in ihrem Körper – geschickt in die Laken
wickelte. Kit und Caramon schien das weder zu kümmern,
noch schienen sie es überhaupt zu bemerken. Während
Rosamund ihren Protest laut herauskreischte, schleppte der
Minotaurus sie unter dem Arm zur Vordertür hinaus.
Plötzlich hatte Raist den Körper seiner Mutter verlassen und
zog sich am Fensterbrett hoch, um in die Hütte zu spähen. Er
sah, wie der Minotaurus und Kit einander verschwörerisch
zunickten. Als Raist seine ältere Schwester genauer ansah,
merkte er, daß sie sich verändert hatte. Sie trug eine Rüstung
aus schimmernden, blauen Schuppen. Wenn sie den Mund
aufmachte, schossen Flammen heraus. Um den Bauch trug sie
einen Gürtel mit dem Holzschwert, das ihr Vater ihr vermacht
hatte. Aber als sie es zückte, war es nicht mehr aus Holz.
Der harte Stahl glänzte im Feuerschein. Mit ihrem
schrecklichen Schwert näherte sich Kit dem nichtsahnenden
Caramon.
Raist klammerte sich wie gebannt ans Fensterbrett, ohne
etwas unternehmen zu können. Schließlich begann er mit einer
Hand gegen das Fenster zu schlagen und seinem Bruder eine
Warnung zuzuschreien. Caramon sah nicht auf, als Kit das
Schwert über seinem Kopf schwang. Rosamunds Kreischen
war immer noch hinter ihm zu hören. Voller Entsetzen sah
Raist zu, wie Kit das Schwert herunterfahren ließ und Caramon
den Kopf abschlug. Der blutige Schädel rollte zum Fenster,
und da sahen seine weitaufgerissenen Augen endlich Raist.
Ruhig und traurig, doch ohne Vorwurf, fragte Caramons Kopf:
»Bruder, warum hast du mich nicht gewarnt?«
Die Worte durchbohrten Raistlins Herz. Schluchzend brach
er auf dem Boden zusammen.
Raistlin fuhr hoch. Er war eingeschlafen! Rot vor Scham
suchten Raistlins Augen das Zimmer ab, doch er erkannte mit
einiger Erleichterung, daß er immer noch allein war.
Es mußte bald Zeit zum Abendessen sein, und in Kürze
würden Gilon und Kitiara kommen, um ihn abzuholen. Es
waren mindestens drei Stunden vergangen, ohne daß er eine
Ahnung hatte, wo der Zaubermeister steckte. Wo mochte
Morat so lange stecken? Und was sollte Raist jetzt tun?
Alles war still. Die Bibliothek war jetzt praktisch dunkel, nur
ein blasser Lichtschein fiel noch von oben herein und
erleuchtete die Mitte des Raums.
Gegenüber
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