Drachenlanze - Die Erben der Stimme
Kentommen eines Kindes
sprachen.
»Dieser Tag ist für mich voller Leid«, sagte er schlicht in der
alten Elfensprache. »Ich habe ein Kind verloren.«
Oben auf dem Balkon erfaßte Miral plötzlich das Komische
der Situation. Schweigend schüttelte er sich vor Lachen. Was
wußte Solostaran schon, dachte er. Der Magier beschloß, die
Farce noch etwas weitergehen zu lassen. Wer weiß, mit was für
anderen unwissentlich absurden Sprüchen die Stimme noch
kommen würde?
Solostarans Raubvogelgesicht war ernst, als er fortfuhr: »Ich
habe im Hain ein Kind verloren. Darum habe ich keinen Erben.
Kann mir jemand Trost spenden?«
Auf dem ersten Balkon, direkt unter Miral, ertönten
Trommeln. Er hörte, wie sich weit unten eine Tür öffnete und
drei maskierte Elfen in schwarzen Seidenhosen,
entsprechenden Umhängen und schwarzen Lederhandschuhen
heraustraten.
Die Ulathi.
»Wir haben ein Kind gefunden«, sagte der erste.
»Er ist reinen Herzens«, sagte der zweite.
»Dieses Kind ist ein leeres Gefäß, das gefüllt werden kann«,
sagte der dritte.
Alle gleichzeitig sprechen: »Wir haben ein Kind gefunden,
das dein Erbe sein soll und der deines Geschlechts.«
Der Gong erklang. Gilthanas stieß die Tür auf und
verschwand dahinter. Dann schloß sich die Tür.
* * *
Als Tanis aus dem grellen Licht des Turms plötzlich in die
fast völlige Finsternis trat, mußte er blinzeln. Er konnte die
Kerzenflamme flackern sehen, doch Porthios’ Gestalt war nur
ein unscharfer Umriß in der Dunkelheit. Die Medaille, die Flint
gemacht hatte, glänzte im Kerzenschein.
Er mußte näher an Porthios heran. Was hatte Gilthanas noch
für Worte gesagt? Tanis überlegte angestrengt.
»Ich bin deine Kindheit«, deklamierte er, wobei er versuchte,
seine Stimme so hell wie die von Gilthanas klingen zu lassen.
»Laß mich zurück. Die Nebel sind vorbei – « Das klang nicht
richtig, aber er tat sein Bestes. »Geh in deine Zukunft.«
»Gilthanas!« sagte Porthios entsetzt. »Sag die richtigen
Worte – und zwar in der alten Sprache!«
Tanis zögerte.
»Hast du sie vergessen?« zischte Porthios. »Hör zu.« Der
Sohn der Stimme wiederholte die korrekten Worte in der alten
Sprache. »Sag es.«
Tanis zögerte immer noch. Porthios kam näher, wie Tanis es
gewünscht hatte.
Einen Augenblick lang spielte Tanis mit dem Gedanken,
seinen Cousin mithilfe seiner Körperkraft zu überwältigen. Er
hatte Porthios schon einmal ins Gesicht geschlagen, vor langer
Zeit im Hof des Palasts. Damit war die einzige Prügelei der
beiden Cousins in ihrem ganzen Leben losgegangen. Und die
hatte ihm auf Jahre hinaus Porthios’ Feindschaft eingebracht.
»Porthios«, sagte er mit unverstellter Stimme. »Hör mir zu.
Geh nicht durch diese Tür.«
»Tanthalas!« Auf Porthios’ Gesicht malte sich der Schreck.
»Wo ist Gilthanas? Was hast du -?«
»Hör zu!« zischte Tanis. »Wenn du irgend etwas bei deiner
Wache im Hain gelernt hast, dann hör mir jetzt zu.«
Sein Cousin trat zurück und schien bewußt eine unbewegte
Miene aufzusetzen. Er atmete einmal tief durch. »Was ist,
Tanis?« fragte er mit ruhiger Stimme.
»Es ist eine Verschwörung im Gange, bei der du und die
Stimme getötet werden sollen.«
»Die Stimme? Geht es meinem Vater gut?«
»Ja, sicher. Ich bin hier, um den Mörder aufzuhalten.«
»Du?« Porthios lachte kurz, doch sein Gesicht war
überraschend freundlich. »Tanis, du bist doch noch ein
Kind…«
Tanis redete hastig, denn er wußte, daß die Zuschauer vor
der Tür unruhig werden würden. Das Schlimmste, was jetzt
geschehen konnte, war, daß jemand die Tür aufmachte und
hereinsah. »Porthios, derselbe, der Xenoth und Eld
Ailea
umgebracht hat, ist hinter dir, der Stimme und Laurana her. Ich
weiß es.«
»Woher weißt du das?«
Tanis überlegte. Er hatte keine Zeit mehr, Porthios zu
überzeugen. Er konnte die Situation mit Gewalt beenden, doch
sein Elfenblut sträubte sich dagegen, einen jungen Mann
während seines Kentommen niederzuschlagen, egal aus
welchem Grund.
Aber er konnte lügen.
»Porthios«, sagte Tanis. »Gilthanas ist tot.«
Es gab eine Pause. Porthios verzog keine Miene.
»Der Mörder hat auch ihn erwischt. Porthios, wenn du und
Laurana und die Stimme umkommen, stürzt dieses Reich in ein
Chaos.«
Porthios hatte offenbar Schwierigkeiten, alles zu verdauen,
was er gerade gehört hatte. Tanis litt mit ihm, weil er an seinem
Schmerz mitschuldig war. »Ich habe einen Plan, Porthios.«
Die Antwort kam ruhig: »Welchen?«
»Hör zu«, sagte
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