Drachenlanze - Die Erben der Stimme
zwischen der marmornen Innenwand und
der goldenen Außenwand des Turms hochschraubten. Wer ihn
dabei beobachtete, mußte glauben, daß der Elf, der Porthios’ Kentommen vorbereitet hatte, vom zweiten Balkon aus – direkt
über den Musikanten – einen besseren Blick über die Abläufe
bekommen wollte. Die Menge jedoch würde ihn nicht sehen
können, wenn er den Zauber wirkte, der die Spitze des Turms
öffnen und Feuer herunterregnen lassen würde. Und wenn
jemand ihn sah, würde es auch nichts machen.
Keiner würde das alles überleben.
Langsam ging er die Stufen hoch und hielt zwischendurch
an, um Luft zu holen. Er war in letzter Zeit schwächer
geworden. Ob er wollte oder nicht, Xenoths Tod durch seine
Magie hatte ihn geschwächt. Aber die Tylorjagd war so eine
hervorragende Gelegenheit gewesen, nachdem der Berater
damit gedroht hatte, zu verraten, was er über Miral erfahren
hatte. Es war so einfach gewesen, sich die vielen zukünftigen
Reichtümer mit noch ein paar Tagen Stillschweigen zu
erkaufen. Neugierige, alte Krähe, dachte Miral. Die Hebamme
genauso, auch wenn er es wirklich bedauert hatte, ihrem Leben
ein Ende zu setzen. Der Zauberer hatte gehofft, die Adligen
würden Xenoths Tod der Magie des Tylors zuschreiben, doch
dann hatte Miral gesehen, wie Tanis den zweiten Pfeil auflegte
– mit einer der Pfeilspitzen, die der Magier bei seinem
nächtlichen Besuch in Flints Laden verzaubert hatte. Da hatte
der Magier die Chance gewittert, sie alle
durcheinanderzubringen. Es war nicht schwer gewesen, den
verzauberten Pfeil in die Brust des toten Beraters zu lenken.
Wie schade, daß die im Turm versammelten Adligen nichts
mehr von seinem Genie erfahren würden.
Blätter und Zweige schlugen Flint ins Gesicht, als er
Windsbraut durch den Wald trieb. Sie waren schon eine halbe
Stunde unterwegs, und obwohl dem Zwerg hin und wieder
etwas bekannt vorkam – der Felsen da neben der Eiche zum
Beispiel –, konnte er immer noch nicht mit Sicherheit sagen,
wo er war.
Windsbraut jedoch schien ein Ziel zu haben, obwohl Flint
nicht besonders glücklich damit war, sich einem Strohdummen,
liebestollen Maultier zu überlassen. Doch das war im Moment
seine einzige Möglichkeit.
* * *
Der Mörder muß Tyresian sein, dachte Tanis beim Rennen.
Der Halbelf versuchte gar nicht mehr, das Schwert zu
verbergen, das zwischen seiner Robe und den Hosen
herumschwang. Entsprechend den Vorschriften des Kentommen wendeten die Elfen auf der Straße sofort die
Augen ab, wenn er vorbeikam. Nur sicherheitshalber hielt er
jedoch weiterhin die Kapuze fest.
Vielleicht war es auch Litanas, überlegte Tanis weiter. Der
junge Elfenlord, der erst vor einem Jahr selbst sein Kentommen gefeiert hatte, hatte von Xenoths Tod beträchtlich profitiert.
Litanas war auf den Posten des alten Beraters nachgerückt und
hatte die reiche Lady Selena für sich gewonnen. Und vielleicht
hatte Ailea etwas herausgefunden, was Litanas mit Xenoths
Tod in Verbindung brachte.
Das war entmutigend und beängstigend. Tanis kannte
einfach nicht genug Tatsachen, um festzustellen, wer für Aileas
und Xenoths Tod verantwortlich war und zwei weitere
Mordversuche unternommen hatte – an Gilthanas und an Tanis.
Er wußte nur, daß der Anschlag auf Gilthanas bedeutete, daß
Flint recht hatte: Porthios, die Stimme und Laurana schwebten
in furchtbarer Gefahr.
Ohne auf seine schmerzenden Lungen zu achten, rannte er
weiter.
Es war dieselbe Lichtung, da war Flint sich sicher. Derselbe
gewaltige Felsen, dieselben Fichten. Immer noch lagen
zersplitterte Bäume auf dem Boden, und durch das Unterholz
war ein breiter Pfad getrampelt.
Er hatte die Lichtung gefunden, auf der ihn der Tylor zum
ersten Mal angegriffen hatte.
Von hier aus würde er hoffentlich den Sla-Mori finden
können.
Wenn er nur rechtzeitig hinkommen würde.
Wenn er sich bloß an alles erinnern würde, was er getan
hatte, als er den Sla-Mori geöffnet hatte.
* * *
Miral sah von dem leeren, zweiten Balkon aus auf die
Versammlung hinunter. Seine klaren Augen glänzten.
Er sah Lauranas goldene Haare im Fackellicht glitzern und
verspürte kurz eine gewissen Traurigkeit – über das, was er tun
mußte, über das, was er getan hatte, über das, was der
Graustein ihm befohlen hatte. Das Morden hatte mit dem Tod
von Kethrenan Kanan, dem Bruder der Stimme, vor fünfzig
Jahren begonnen. Miral hatte die Menschenbanditen durch
seine Zauberkunst gelenkt, als sie Kethrenan und dessen Frau
Elansa angriffen. Und obwohl nicht Miral
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