Drachenlanze - Ungleiche Freunde
verstecken, aber ein alter Elf schob ihn
freundlich zurück.
»Das Geschäft ist zu«, unterrichtete er den Halbelfen.
»Aber…«, sagte Tanis.
»Der Markt ist vorbei«, sagte der Elf nachdrücklich. »Komm
morgen wieder.«
Tanis stolperte zurück, doch bevor er sich umdrehen und
davonrennen konnte, sah er, daß Lauranas grüne Augen ihn
entdeckt hatten. Er schluckte. Jetzt konnte er nicht mehr
wegrennen, nicht nachdem die junge Elfenlady ihn gesehen
hatte. Gerade hatten sich ihre korallenroten Lippen zu einem
strahlenden Lächeln geöffnet, und mit einer erstaunlichen
Mischung aus Entschlossenheit und Anmut eilte sie über den
Marktplatz. Die Männer und Frauen an den Ständen hielten in
ihrer Arbeit inne und betrachteten respektvoll und bewundernd,
wie sie vorbeilief. Gilthanas folgte ihr, wirkte aber weniger
erfreut als sie.
»Tanis!« rief Laurana, als sie sich dem Halbelfen näherte.
Ihre Stimme tönte wie eine Glocke. Sie breitete die Arme aus
und umfing Tanis in einer kurzen Umarmung. Dann drehte sie
sich zu Gilthanas um und sagte: »Ich habe Tanis schon fast
eine Woche nicht gesehen. Ich glaube, er geht uns aus dem
Weg.«
Gilthanas strich sich das goldblonde Haar aus der Stirn. Er
sah aus, als wäre das ganz in seinem Sinne.
Tanis seufzte und fühlte sich unbehaglich, weil ihm
überdeutlich bewußt war, daß die Tochter der Stimme immer
noch seine Hand festhielt – und daß die Leute um die drei
herum die Begrüßung mitbekamen und die Augenbrauen
hochzogen. Er versuchte, sich ihrem Griff zu entziehen, und
Laurana ließ ihn los. Dabei runzelte sie ein wenig die Stirn.
Überraschenderweise war es Gilthanas, der Laurana ab
lenkte, indem er fragte, ob Tanis morgen zu der großen
Bekanntmachung in den Turm kommen würde.
»Worum geht’s denn?« fragte Tanis. Laurana wich einen
Schritt zurück, zog einen kleinen Schmollmund, schien dann
aber ihre Meinung zu ändern und beteiligte sich an dem
Gespräch. Mit ihren dreißig Jahren war sie halb Frau, halb
Mädchen, und Tanis wußte nie, welcher Teil ihres Wesens zum
Vorschein kommen würde, wenn er mit ihr sprach.
Infolgedessen hatte er sie tatsächlich gemieden.
»Ich weiß nicht, worum es geht«, sagte sie. »Vater sagt es
niemandem. Ich weiß nur, daß er sich quält und Lord Xenoth
sich freut, und das gibt mir immer zu denken.«
»Du siehst heute großartig aus, Tanis«, meinte sie
unvermittelt. Ihr grüner Seidenanzug schimmerte im
Abendlicht. Ganz plötzlich war er sich seines menschlichen
Bluts ganz deutlich bewußt. Er fühlte sich wie ein riesengroßer
Trampel. Auch wenn es noch Jahre dauern würde, bis sie bei
den Elfen als »erwachsen« gelten würde, hatte sie ihre volle
Größe schon erreicht, war aber dennoch so leicht und frisch
und schnell, daß er sich neben ihr wie ein Oger vorkam.
Gilthanas legte seiner Schwester mit ärgerlicher Miene eine
Hand auf den Arm und sagte warnend: »Laurana…« Tanis
wurde rot und blickte an sich hinunter auf die Kleidung, die sie
gelobt hatte: ein himmelblaues Hemd unter einer
federnbesetzten Lederweste und braune Hosen aus sehr
weicher Wolle. Er zog perlenbesetzte Mokassins noch immer
den gebräuchlicheren Elfenstiefeln vor. Das war eine
Gewohnheit, die er nur schwer ablegen konnte.
Laurana riß sich ruckartig los, und plötzlich sah Tanis das
verwöhnte Mädchen, das sie bis vor wenigen Jahren gewesen
war. Ihre Stimme jedoch war die einer Frau. »Gilthanas, ich
mache, was mir paßt«, schimpfte sie. »Wir haben darüber
bereits geredet. Jetzt laß das.« Tanis war unbehaglich zumute.
Die Tage, in denen Gilthanas und er gemeinsam durch die
Stadt gelaufen oder durch den Wald gestreift waren, schienen
jetzt weit entfernt, als wenn sie mehr Traum als Realität
gewesen wären. Sie waren Freunde gewesen. Jetzt wußte Tanis
nichts zu sagen und trat von einem Fuß auf den anderen.
Gilthanas nickte den beiden kurz zu. »Dann gehe ich eben.«
Er fuhr herum und stolzierte durch die aufbrechenden Händler
und ihre Karren davon.
»Tut mir leid«, sagte Tanis, mehr zu sich selbst als zu
Laurana, doch das Elfenmädchen hatte ihn anscheinend nicht
gehört. Statt dessen nahm sie seine Hand und zog ihn mit sich
über den Markt.
»Ich weiß nicht, was Vater für morgen vorhat«, beklagte sie
sich. »Ich weiß nur, daß keiner von der Regierung jemals
einfach rauskommt und etwas sagt. Selbst die gewöhnlichste
Bekanntmachung wird von Bergen von Pergament, meterweise
Bändern und kannenweise Siegelwachs begleitet.«
Tanis merkte, daß
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