Drachenlord-Saga 02 - Drachenherz
einem uralten Ritual entsprach, jedes Wort und jeder Blick bemerkt, debattiert und im Hinblick auf Beleidigungen oder Schwächen seziert wurde.
Nur in diesem Garten und unter den Schaustellern, an denen er sich erfreute, konnte der Kaiser von Jehanglan, der Phönixkaiser des Himmels und Herrscher der vier Viertel der Erde, sich entspannen. Shei-Luin verspürte beinahe so etwas wie Mitgefühl. Der Phönix war grausam, diesen Mann auf den Phönixthron gesetzt statt ihn zu einem Gaukler gemacht zu haben.
Aber der Hauch von Mitgefühl verging ihr, als sie zusah, wie Yesuin über den Rasen lief, um sich neben den Kaiser zu stellen. Das Herz klopfte ihr heftig in der Brust, es war ein Wunder, daß nicht alle es hören konnten.
Sie könnten beinahe Brüder sein, so ähnlich sehen sie einander!
Aber so ähnlich sie sich auch von der Gestalt her waren, es war der Gedanke an Yesuin, der sie erregte. Die Erinnerung an Xianes Körper auf ihrem bewirkte nur Übelkeit. Es erstaunte sie, wie unterschiedlich sie auf zwei so ähnliche Männer reagieren konnte.
Sie waren beide nicht sonderlich groß, aber gut gebaut und sportlich. Xianes Haut war heller – das Erbe seines kaiserlichen Vaters – und glatt; Yesuin hatte hier und da Narben von den Kämpfen, die er ausgefochten hatte, bevor er als Geisel an den kaiserlichen Hof gekommen war. Einige Höflinge warfen Blicke auf diese Narben, in denen sich Bewunderung und Abscheu mischten; wenn diese Blicke allerdings auf den Oberschenkel des Zharmatianers und das braune Geburtsmal dort fielen, waren sie reine Verachtung.
Ja, das Pferdevolk bringt seine Kinder nicht wegen jedes kleinen Makels um, dachte Shei-Luin wütend und tat die verächtlichen Blicke mit einem unbewußten Schnippen ihres Fächers ab. Sie sind nicht so feige wie ihr. Sie fürchten eure Dämonen nicht.
Sie beobachtete ihn und ihn allein, als er zunächst mit den Frauen rang, dann mit jedem der Höflinge, der tapfer – oder dumm – genug war, ihn herauszufordern. Sie wußte, was geschehen würde.
Es geschah alles innerhalb eines Herzschlags. Yesuin und Ulon, einer der Höflinge, rollten beim Ringen über den Rasen; Yesuin hielt seinen Gegner im Würgegriff. Wie zufällig blickte er über Ulons Kopf in die Lotuslaube, wohin kein Mann außer dem Kaiser seinen Blick wenden durfte. Shei-Luin war bereit.
Sie senkte den Fächer. Heute nacht, flüsterte sie lautlos, schnell wie ein Gedanke. Er blinzelte. Dann zuckte Ulon, und er und Yesuin rollten wieder davon.
Es genügte. Sie würde bereit sein.
3. KAPITEL
Haoro, Priester des zweiten Ranges, saß im äußeren Raum seiner Privatgemächer im Eisentempel und wärmte sieh an dem Kohlebecken zu seinen Füßen, als er den Boten empfing.
Der Mann verbeugte sich vor dem kleinen Abbild des Phönix, das die Wand des schlicht möblierten Raums schmückte, bevor er vor Haoro niederkniete. Er griff in seinen weiten Ärmel und holte vorsichtig etwas heraus.
Es war ein einzelnes Blatt Reispapier, gefaltet in der Form, die als ewiger Lotus bekannt war. Ein roter Lotus. Er war exquisit. Jede anmutige Linie kündete von der Berührung eines SJOw-Meisters.
Aha, dachte Haoro, als der Mann die Botschaft ihm mit beiden Händen entgegen streckte und darauf achtete, sie nie unter Augenhöhe sinken zu lassen, die Zeit ist reif.
Er griff nach dem Papierlotus, hob ihn hoch und bewunderte ihn. Diesmal hatte sein Onkel sich selbst übertroffen. Er würde Jhanun gratulieren müssen. Mit Augen nur für die Blüte, die auf seiner Handfläche ruhte, warf Haoro dem Mann ein Geldstück zu und sprach einen kurzen Segen. »Du darfst dich im Gasthaus der Pilger erfrischen«, sagte er nachlässig. »Du hast auch meine Erlaubnis, an der morgendlichen Zeremonie im inneren Tempel teilzunehmen. Sage den geringeren Priestern, es sei mein Wunsch.«
Der Bote strahlte. Das Lied hören zu dürfen, ohne zuvor die vollständige Pilgerreise durchführen zu müssen, war ein seltenes Privileg. Der Mann berührte den Boden dreimal mit der Stirn. »Ich danke Euch, Herr, für Eure Großzügigkeit!«
Er kroch rückwärts und berührte dabei immer wieder mit der Stirn den Boden, bis er an der Tür war. Dann stand er auf und ging.
Sobald der Bote verschwunden war, umschloß Haoro den Papierlotus mit beiden Händen.
Die Farbe verkündete die Botschaft so deutlich, als wäre sie wie in bester Kalligraphie niedergeschrieben.
Sei bereit
Die Zeit war also gekommen, um den Ehrgeiz, den er und sein Onkel
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